WEITERFÜHRENDES_3 zurück zur Übersicht >

Werner Onken:
Die ökonomische Botschaft von Michael Endes „Momo“
mit einem Brief von Michael Ende an Werner Onken vom 3. September 1986

Der Märchenroman „Momo“ von Michael Ende erschien 1973. Zuvor war Ende schon mit „Jim Knopf und die wilde 13“ berühmt geworden. Auch „Momo“ begeisterte eine große Leserschaft in vielen Ländern.

Gemäß seinem Untertitel ist der Märchenroman „Momo“ eine „seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurück brachte“. Sie spielt in der Gegenwart des „Heute-Landes“. Ihre Wurzeln reichen zurück in die Vergangenheit des „Gestern-Landes“. Und sie richtet unsere Blicke auf ein zukünftiges „Morgen-Land“. Das „Gestern-Land“ und das „Heute-Land“ entsprechen dem biblischen Paradies und der von Gott abgefallenen Welt mit dem dazwischen liegenden Sündenfall. Das „Morgen-Land“ entspricht dem zukünftigen Reich Gottes auf Erden. Und Momo ist die Erlösergestalt, die den Übergang zwischen den beiden Zeitaltern herbeiführt.

* * *

Die wohl bedeutendste Sehenswürdigkeit des „Heute-Landes“ ist die Ruine eines Amphitheaters, eines Überrestes aus dem vergangenen „Gestern-Land“. Darin hat sich das kleine elternlose Mädchen Momo eine bescheidene Wohnung eingerichtet. Früher war das Amphitheater neben den herrlichen Tempeln und bunten Märkten einer der schönsten Plätze, wo sich Menschen versammelten, um Theateraufführungen zu sehen und Reden zu halten und sie anzuhören. Heute ist es nahezu vergessen; nur ein paar Touristen kommen hin und wieder, um die Ruine zu fotografieren. Eine besondere Anziehungskraft übt Momo jedoch auf die Kinder der nahegelegenen Stadt aus. So gewinnt sie bald die Freundschaft zahlreicher Kinder und auch einiger Erwachsener, und die Ruine wird zu ihrem beliebten Treffpunkt.

* * *

Seit dem Übergang vom „Gestern-Land“ zum „Heute-Land“ haben sich dunkle Schatten über der ganzen Stadt und ihrer Umgebung ausgebreitet. Geräuschlos ist sie von den „Grauen Herren“,den Agenten des zur Macht gekommenen Geldes, erobert worden. Die Finanzwelt stiehlt den Menschen ihre Lebenszeit, ohne dass sie es merken und darüber nachdenken. Der Menschen Zeit wird zum Geld der Grauen Herren.

Die Grauen Herren bemächtigen sich zuerst der Unternehmerschaft, die hier durch den Frisör„Herrn Fusi“ repräsentiert wird. Mit raffinierten Tricks überredet der „Agent Nr. XYQ/384/b“ Herrn Fusi, „ ... alles Überflüssige wegzulassen“ (S. 67), schneller zu arbeiten und Zeit zu sparen. Und mit falschen Versprechungen lockt er ihn, seine täglich eingesparte Zeit auf die von den Grauen Herren eigens dafür eingerichtete „Zeit-Sparkasse“ zu bringen und sich dort auf einem Konto gutschreiben zu lassen. Wenn er eine einmalige Summe nicht abhebe - so erklärt ihm der Agent - , wachse sie durch den Zins in nur zehn Jahren auf das Doppelte an. Und wenn er täglich zwei Stunden als Ersparnis zur Bank bringe, wachse sein Guthaben im Laufe der Jahre auf mehr als das Zehnfache seiner gesamten Lebenszeit. (S. 66 – 72)

Herr Fusi ist tief beeindruckt von dem großzügigen Angebot des Agenten. Bei solchen Ertragserwartungen möchte er selbstverständlich auch ein Konto bei der Zeit-Sparkasse eröffnen. Die Arbeitsweise der Zeit-Sparkasse hat er aber noch nicht ganz verstanden und bittet den Agenten deshalb noch um eine Erklärung. Aber der Agent erwidert nur: „Das überlassen Sie ruhig uns. Sie können sicher sein, dass uns von Ihrer eingesparten Zeit nicht das kleinste bisschen verlorengeht. Sie werden es schon merken, dass Ihnen nichts übrig bleibt.“ (S. 68)

Geblendet von den Aussichten auf ein großes und immer noch mehr wachsendes Zeit-Vermögen verdrängt Herr Fusi die noch bestehenden Zweifel und macht sich mit Eifer daran, sein ganzes Leben zu rationalisieren und Zeit zu sparen: er unterhält sich nicht mehr mit seinen Kunden, sondern beschäftigt nun Arbeiter und Angestellte, die ihm beim Zeit-Sparen 'helfen'. Seine Kontakte zu Freunden und Verwandten bricht Herr Fusi ab (seine Mutter kommt in ein Altersheim, wo er sie nur noch einmal im Monat kurz besucht), weil sie ihn zu viel Zeit kosten. Aus dem gleichen Grund hört er auch auf, seinen kulturellen Interessen wie Singen und Lesen nachzugehen.

So wie Herr Fusi sparen nun auch die anderen Menschen ihre Zeit, zum Beispiel der mit Momo befreundete Maurer Nicola. Er leidet sehr unter dem Stress des Zeit-Sparens und ist sich dessen bewusst, dass die Grauen Herren das Handwerk als eine Form der Kunst zerstören, indem sie es zeitsparend, d. h. rentabel industrialisieren. Er ertränkt dieses Gefühl im Alkohol, um seinen inneren Zwiespalt zu überdecken.

Der Gastwirt Nino passt sich als kleiner Gewerbetreibender den neuen Gegebenheiten ebenfalls an. Wegen der höheren Pacht, die er nun zahlen muss, und der ständig steigenden Preise will er nur noch zahlungskräftiges Publikum aus gehobenen Schichten einlassen: „Mein Lokal ist schließlich kein Asyl für arme alte Tatterer.“ (S. 84)

Bald erliegen alle kleineren, mittleren und größeren Unternehmer ebenso wie die Arbeiter und Angestellten den Einflüsterungen der Finanzagenten. Alle werden sie vom Zeit-Sparen wie von einer „blinden Besessenheit gepackt“. (S. 69) Bereitwillig folgen sie ihrer Fernbedienung durch die graue Macht des Geldes und verinnerlichen sie so sehr, dass sie ihre fremdbestimmten Verhaltensweisen als solche gar nicht mehr wahrnehmen und sie wie selbstverständlich als etwas Selbstgewolltes ansehen. Die wirtschaftliche Ausbeutung der Menschen durch den alltäglichen Diebstahl von Zins und Lebenszeit spielt sich ohne ausdrückliche Rechtsgrundlage zwischen der Zeit-Sparkasse und ihren Kunden ein und wird unauffällig in die freiheitlich-demokratische Rechtsordnung des Heute-Landes eingewoben.

Die ganze Stadt nimmt nach und nach ihr wahrhaft modernes und fortschrittliches Gesicht an. War sie im Gestern-Land noch ein Ort menschlicher Geborgenheit, so ist sie im Heute-Land eine unbehagliche, gleichförmige, laute und hektische Geschäftsmetropole. Die Welt ist zu einer „Wüste der Ordnung“ (S. 69) geworden.

* * *

Keiner der Erwachsenen will wahrhaben, dass der auf leisen Sohlen in die Stadt geschlichene moderne Kapitalismus sie in kleine Rädchen einer großen anonymen Finanzmaschinerie verwandelt hat und dass sie nun am Leben vorbeileben. Nur die Kinder, die noch nicht in den Sog der modernen Medien geraten sind, spüren es, denn für sie hat nun niemand mehr Zeit. Die Kinder merken, dass die von den Grauen Herren eroberte Stadt, in die sie hineinwachsen sollen, zutiefst unnatürlich ist.

Ein besonders tiefes Empfinden hierfür hat die kleine Momo. Vor der Eroberung der Stadt durch die Grauen Herren hat sie abends oft auf ihrer Ruine gesessen und es ist ihr so vorgekommen „ … als höre sie eine leise und doch gewaltige Musik.“ (S.21-22) Am Abend nach der Eroberung ist diese Harmonie der Schöpfung im Heute-Land nicht mehr vernehmbar, weil sie im Bereich von Wirtschaft und Gesellschaft durch die Herrschaft des Geldes über die Menschen gestört wird. Aber Momo wird die Grauen Herren in einem dramatischen Kampf besiegen; sie wird die Menschen von dieser Herrschaft befreien und der Schöpfung die verlorene Harmonie zurückgeben.

Zwei ihrer Freunde begleiten sie dabei als ihre engsten Weggefährten. Sie sind ganz entgegengesetzte Charaktere, die sich aber freundschaftlich ergänzen. Der eine ist Beppo Straßenkehrer, ein schon etwas älterer Mann, den die Erfahrungen des Lebens zu einem besonnenen Realisten gemacht haben. Seine Lebensmaxime lautet: „Man darf nie an die ganze Straße auf einmal denken, sondern immer nur an den nächsten Schritt.“ (S. 37) Beppo rät Momo, die soziale Befreiung nicht in einer Blitzaktion erzwingen zu wollen, sondern sich Schritt für Schritt vorwärts zu arbeiten und die jeweils erreichten Teilerfolge zu festigen.

Gigi Fremdenführer, Momos anderer Freund, ist dagegen ein jugendlicher Stürmer und Dränger, der in Gedanken immer schon in der noch fernern Zukunft weilt und sich nicht klar macht, wie weit der Weg bis dahin noch ist. Voller Leidenschaft erzählt Gigi den zum Amphitheater kommenden Touristen Geschichten über die „Kaiserin Strapazia Augustina“, die von einer unersättlichen Gier nach goldenem Reichtum besessen ist, und über den „grausamen Tyrannen Marxentius Communus“. (S. 45-48) Die Namen lassen die Richtung ahnen, in der das Morgen-Land liegt: nämlich jenseits von Kapitalismus und Kommunismus.

* * *

Der Übergang vom Heute-Land in das Morgen-Land beginnt mit dem Besuch des Agenten Nr. BLW/553/c bei Momo. Um sie mit dem geistlosen Materialismus der Grauen Herren zu infizieren und ihre innere Kraft zum Widerstand gegen die Herrschaft des Geldes zu brechen, bringt ihr der Agent die „vollkommene Puppe Bibigirl“ als Geschenk mit. Doch Momo erlebt durch sie zum ersten Mal das Gefühl der Langeweile. Um es ihr auszutreiben, schenkt der Agent ihr weitere Puppenkleider, lederne Handtaschen, Schminkutensilien, Tennisschläger und vieles mehr, denn - so lautet seine hohle Ansicht über den Sinn des Lebens – „ ... man muss nur immer mehr haben, dann langweilt man sich niemals.“ (S. 92) Tatsächlich ist Momo zwischen den Gefühlen der Faszination und des Angeekeltseins hin- und hergerissen. Schließlich widersteht sie der Versuchung und lässt sich nicht von den oberflächlichen Verlockungen vereinnahmen: „Ich glaub, man kann die Puppe nicht liebhaben.“ (S. 93)

Darauf kommt es nach Ansicht des Agenten überhaupt nicht an. Trotzdem wird er durch Momos Standhaftigkeit verunsichert. Für einen kurzen Moment verliert er die Kontrolle über sich selbst und verrät Momo das Geheimnis der Grauen Herren: „Nur solange wir unerkannt sind, können wir unserem Geschäft nachgehen, . . . ein mühseliges Geschäft, den Menschen ihre Lebenszeit stunden-, minuten- und sekundenweise abzuzapfen ... Wir reissen sie an uns, wir speichern sie auf. ... Ah, ihr wisst nicht, was das ist, eure Zeit! ... Aber wir, wir wissen es und saugen euch aus bis auf die Knochen. Und wir brauchen mehr, immer mehr.“ (S. 97-98)

Erschrocken über sich selbst merkt der Agent, was für ein schwerwiegender Fehler ihm unterlaufen ist. Er fleht Momo an, all diesen „Unsinn“ schnell wieder zu vergessen, und ist im Nu mitsamt der Puppe und all ihrem Zubehör verschwunden.

Die Grauen Herren sind also verwundbar. Momo vergisst ihr Geheimnis nicht und erzählt es ihren Freunden Beppo Straßenkehrer und Gigi Fremdenführer. In seinem jugendlichen Tatendrang hält Gigi die große Stunde für gekommen, die Grauen Finanzagenten zu besiegen und „die ganze Stadt zu retten“.(S. 99) Sich selbst sieht er schon in der Rolle des umjubelten triumphalen Befreiers. So wird in einer geheimen Versammlung von 50 - 60 Kindern auf Drängen von Gigi und gegen den Rat des vorsichtigen Beppo der Beschluss gefasst, die Öffentlichkeit über den wahren kapitalistischen Charakter der Zeit-Sparkasse aufzuklären. Die Überlegung, ob die Wissenschaften und die Polizei dabei helfen könnten, wird nach kurzer Zeit verworfen, weil beide keine Ahnung von dem Treiben der Grauen Herren haben. Die Kinder könnten diese Aufklärungsarbeit auch allein leisten. Sie sollten eine große Kinderdemonstration veranstalten, mit Plakaten und Transparenten durch die ganze Stadt ziehen und alle Leute zu einem Vortrag in das Amphitheater einladen. Gigi gibt sich den kühnsten Träumen hin: „Tausende und Abertausende werden herbeiströmen.“(S. 107)

Gesagt, geglaubt und getan. Aber zur bitteren Enttäuschung der Kinder kommen die Erwachsenen nicht - nicht ein einziger! Die Erwachsenen wollen von der Wahrheit in Ruhe gelassen werden. Theoretische Aufklärung ist demnach noch nicht der richtige oder zumindest nicht der einzige Weg, um die Grauen Herren zu besiegen. Mit ihr muss eine tiefgreifende geistig-seelische Umwälzung im Bewusstsein der Menschen einhergehen.

* * *

Unterdessen bleiben die Grauen Herren nicht untätig. Auf einer großen Müllhalde draußen vor der Stadt sitzen sie über den Agenten BLW/553/c zu Gericht, der ihr Geheimnis an Momo verraten hat. Ihm „ ... wird unverzüglich jegliche Zeit entzogen.“ (S. 118)

Anschließend beraten die Grauen Herren, was sie zur Sicherung ihrer Herrschaft unternehmen können. Dazu wollen sie Momo in ihre Gewalt bringen. Eine groß angelegte Fahndungsaktion führt jedoch nicht zum gewünschten Erfolg. Die Schildkröte Kassiopeia, die Momos Bündnis mit der Natur symbolisiert und das Geschehen der nächsten halben Stunde immer schon vorhersehen kann, kommt Momo zu Hilfe; sie führt sie aus der Gefahrenzone sicher durch das dichte Gedränge der Stadt bis zur »Niemals-Gasse« und von dort zum „Nirgend-Haus“, wo „Meister Hora“ wohnt und alle Lebenszeit ihren göttlichen Ursprung hat.

Der Misserfolg der Verfolgungsjagd führt zu Unruhe und Ratlosigkeit in den Vorstandsetagen der Bankenwelt. In einer Krisensitzung äußert eines der Vorstandsmitglieder die Befürchtung, dass Momo geholfen worden sein könnte. Sie könnte in die Sicherheit des Nirgend-Hauses gebracht worden sein, wo sie dem Zugriff der Grauen Herren entzogen ist. Langsam kommt den Grauen Herren die Einsicht, dass die Gefahr für ihre Herrschaft nicht nur von dem kleinen Mädchen ausgeht, sondern auch von dem allmächtigen Meister Hora. Die Verfolgung Momos wird damit zu einem Duell zwischen Mammon und Gott mit Momo als Zünglein an der Waage.

Momo hat offenbar den Weg zu Meister Hora gefunden, den die Grauen Herren bislang vergeblich gesucht haben. Deshalb beschließen sie, nicht mehr Momos Beseitigung anzustreben. Stattdessen wollen sie ihre Rückkehr abwarten und sich dann von ihr den Weg zu Meister Hora zeigen lassen. Sie wollen direkt mit ihm verhandeln und sind sich „ ... sicher, dass wir sehr schnell mit ihm fertig würden. Und wenn wir erst einmal an seiner Stelle sitzen, dann brauchen wir hinfort nicht mehr mühsam Stunden, Minuten und Sekunden zu raffen, nein, wir hätten auf einen Schlag die gesamte Zeit aller Menschen in unserer Gewalt! Und wer die Zeit aller Menschen besitzt, der hat unbegrenzte Macht! Wir wären am Ziel!“ (S. 140)

* * *

Unterdessen bekommt Momo im himmlischen Nirgend-Haus bei Meister Hora unzählige Variationen einer wunderbar harmonischen Musik des Kosmos zu hören. Und sie sieht dabei wunderschöne Farben. Hier hat alles Leben seinen Ursprung. Der unermessliche, von goldenem Licht durchwebte Raum beherbergt unzählige Uhren, die alle verschiedene Zeiten anzeigen. Beim Lösen eines Rätsels lernt Momo ihre Bedeutung kennen: Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gehören zusammen und sind untrennbar ineinander verschränkt; alles Leben besteht aus Kreisläufen des gleichzeitigen Werdens und Vergehens. Der stetige Wechsel von Stirb und Werde ist das ewig gültige Gesetz, auf dem alles Leben und alle Zeit beruhen.

Nachdem Momo dieses Gesetz des Lebens verstanden hat, führt Meister Hora sie an den Ort, „ ... wo die Zeit herkommt.“ (S. 160) Dort, tief in ihrem eigenen Inneren, erlebt sie, wie Knospen aus dunklem Wasser auftauchen, wie sie nacheinander zu farbenprächtigen und herrlich duftenden „Stunden-Blumen“ erblühen, wie diese Blumen wieder verwelken und im dunklen Wasser verschwinden. Und dazu vernimmt Momo jene Sphärenmusik, die sie manchmal leise und wie von fern gehört hat, wenn sie abends auf dem steinernen Rund ihres Amphitheaters im Gestern-Land saß und zu den Sternen aufblickte.

Die im Rhythmus eines „Sternenpendels“ aufblühenden und wieder verwelkenden Stunden-Blumen sind wunderschöne Bilder für das Stirb und Werde allen Lebens. (S. 160–164) Diese überwältigenden Eindrücke, die Momo davon im Nirgend-Haus empfangen hat, stärken ihr Urvertrauen zum Weltengrund, das sie braucht, um nach ihrer Rückkehr auf die Erde den Kampf zwischen Mammon und Gott zum Guten entscheiden zu können.

* * *

Tatsächlich haben Beppo, Gigi und die anderen Kinder noch eine Zeit lang auf Momos Rückkehr gewartet - ähnlich wie die Christen eine Wiederkehr des zum Himmel aufgefahrenen Christus erwarten. Doch dann sind sie in die Fänge der Grauen Finanzagenten geraten. Gigi wird unter ihrem Einfluss zu einem erfolgreichen Showmaster. Über Funk und Fernsehen unterhält er jetzt die Menschen mit kurzweiligen Geschichten, um jegliches Nachdenken über ihr sinnentleertes Dasein von vornherein zu ersticken. Er verdient gut dabei; mittlerweile bewohnt er eine Villa im Prominentenviertel und nennt sich nun vornehm Girolamo. Beppo geht zur Polizei, um Momo als vermisst zu melden. Dadurch gerät er in die Mühlen der Amtsstuben und landet von da aus schließlich in einer Irrenanstalt. Und die Kinder kommen - angeblich um ihre Verwahrlosung zu verhindern - in staatliche „Kinderdepots“, wo sie graue Uniformen tragen und zur Vorbereitung auf ihr weiteres Leben als Zeit-Sparer gerade das makabre Lochkartenspiel erlernen. Manchmal werden ihnen auch Buchstaben-Zahlen-Kombinationen zugeordnet. Dann werden ihre Karten gemischt und kommen in eine Datei.

* * *

Als Momo zurückkehrt und ihren Freunden von ihrer Begegnung mit Meister Hora erzählen will, trifft sie sie nicht mehr an. Alle haben sich an die von den Grauen Herren geschaffenen Verhältnisse angepasst bzw. sind ihnen angepasst worden, so dass Momo auch eigentlich gar nicht mehr erwartet wird. Nur die Natur in Gestalt der Schildkröte Kassiopeia steht ihr hilfreich zur Seite. Aber auch sie verlässt Momo vorübergehend, als ihr Vertrauen zum Leben während ihrer Suche nach Gigi doch einmal ins Wanken gerät.

Nach langen Monaten, in denen Momo von allen verlassen und in völliger Einsamkeit ganz auf sich allein gestellt ist, steht plötzlich einer der Grauen Herren vor ihr. Mit seiner Zigarre „ ... pafft er einen Rauchring, der sich wie eine Schlinge um Momos Hals legt“. (S. 218) Er erklärt ihr, dass sie dem Finanzimperium nun hilflos ausgeliefert sei. Die Agenten hätten ihr alle ihre Freunde genommen und könnten nun mit ihr machen, was sie wollten. Aber sie hätten es nicht auf ihr Leben abgesehen, denn Momo solle ihnen den Weg zu Meister Hora zeigen, damit sie ihn entmachten und endlich allein über die ganze Welt herrschen könnten. Selbstsicher erklärt er Momo: „Wir wollen die ganze Zeit aller Menschen. Die muss Hora uns überlassen. ... Wir werden die Welt beherrschen.“ (S. 226) Der Graue Herr kündigt Momo an, dass um Mitternacht eine Besprechung mit ihr über das weitere Vorgehen stattfinden solle. Dann verschwindet er.

Und sie kommen zur vereinbarten Zeit, die Grauen Herren. Mit einem riesigen Aufgebot von Autos kommen sie aus allen Richtungen angefahren. Sie stellen sich im Kreis um Momo auf, strahlen sie mit ihren grellen Scheinwerfern an, bleiben aber selbst im Dunkeln. Angst und eisige Kälte beschleichen Momo. Aber dann erinnert sie sich an die prächtigen Farben und harmonischen Klänge im Nirgend-Haus, „ ... und im Nu fühlt sie sich getröstet und gestärkt.“ (S. 223)

Die Frage, ob sie bei Meister Hora war, beantwortet Momo mit einem Kopfnicken. Die Grauen Finanzagenten wollen erfahren, ob es die Stunden-Blumen tatsächlich gibt und ob Momo sie gesehen hat. Denn diese Stunden-Blumen fürchten sie ganz besonders - sie sind nämlich das eigentliche Symbol des Grundgesetzes von allem Leben. Die Grauen Herren wissen genau, dass sie gegen dieses Grundgesetz verstoßen, wenn sie den Menschen ihre Lebenszeit stehlen und in Geldform „einfrieren“,so dass sie dem Kreislauf des ewigen Stirb und Werde entzogen ist.

Dann spricht eine Stimme aus der Dunkelheit zu Momo, dass sie aus ihrer qualvollen Einsamkeit entlassen und ihre Freunde zurückbekommen würde, wenn sie den Grauen Herren den Weg zu Meister Hora weise. Aber Momo weigert sich: „Selbst wenn ich's könnte, ich tät's nicht.“ (S. 227) Sie kann es wirklich nicht, denn die Schildkröte Kassiopeia, die sie zu Meister Hora geführt hat, hat sie ja verloren. Sofort leiten die Grauen Herren eine Großfahndung ein, um Kassiopeia zu suchen.

Kassiopeia, die immer schon eine halbe Stunde vorher weiß, was als nächstes geschieht, kehrt unterdessen zu Momo zurück und führt sie - diesmal auf Abstand verfolgt von einem Heer Grauer Herren - ein zweites Mal zu Meister Hora. Während die Grauen Herren das Nirgend-Haus von allen Seiten umstellen, erklärt Meister Hora Momo noch einmal die ganze ökonomische Problematik der Zeit und des Zeit-Diebstahls, des Lebens und der Ausbeutung der Menschen durch die Zeit-Sparkasse und gibt ihr die letzten Instruktionen für die alles entscheidende Auseinandersetzung mit den grauen Herrschern über das Geld.

In diesem Gespräch möchte Momo von Meister Hora wissen, „warum die Grauen Herren so grau im Gesicht aussehen.“ - „Weil sie von etwas Totem ihr Dasein fristen. Du weißt ja, dass sie von der Lebenszeit der Menschen existieren. Aber diese Zeit stirbt buchstäblich, wenn sie von ihrem wahren Eigentümer losgerissen wird. Denn jeder Mensch hat seine Zeit. Und nur so lange sie wirklich die seine ist, bleibt sie lebendig.“ (S. 152-153) „Jeder Mensch besitzt einen goldenen Tempel der Zeit, weil jeder ein Herz hat.“ (S. 240) Aus den Herzen der Menschen reißen die Grauen Herren die Stunden-Blumen heraus und frieren sie in Geldform in ihren Tresoren ein, „so dass sie weder richtig tot noch richtig lebendig sind und nicht zu ihren Eigentümern zurückkehren können. Manchmal nehmen die Finanzgewaltigen sich auch gefrorene Stunden-Blumen aus den Tresoren, reißen ihnen einzelne Blütenblätter ab und drehen sich daraus ihre Zigarren.“ Sie investieren also das akkumulierte Geld in Industrieanlagen mit großen Schornsteinen. Und mit dem Rauch vergiften sie dann die Zeit, um Meister Hora zu erpressen. (S. 240)

„Dann sind die Grauen Herren also gar keine Menschen?“ fragt Momo. „Nein, sie haben nur Menschengestalt angenommen.“ – „Aber was sind sie dann?“ – „In Wirklichkeit sind sie nichts.“ (S. 152/153) Einerseits sind sie Menschen, andererseits sind sie von ihrem eigentlichen Menschsein dadurch entfremdet, dass sie gewissermaßen in einer Doppelrolle zugleich Agenten einer verfehlten, außerhalb der Natur stehenden Geldordnung sind. Indem diese Geldordnung das „Einfrieren“ von Geld zulässt, ermöglicht sie die Verlagerung von Einkommen der arbeitenden Menschen durch den Zins und Zinseszins zu anderen Menschen, die nicht arbeiten. Dadurch werden Teile der Lebenszeit, die Meister Hora allen Menschen zugemessen hat, von ihren „wahren Eigentümern abgerissen“ und in fremden Händen, die sie nicht erarbeitet haben, aufgehäuft. Und bei diesem Leben vernichtenden Diebstahl von Lebenszeit wirken die Grauen Herren in den Banken als Vollzugsorgane falscher Strukturen der Geldordnung mit.

„Und wo kommen die Grauen Herren her?“ will Momo weiter wissen. „Sie entstehen, weil die Menschen ihnen die Möglichkeit geben, zu entstehen. Das genügt schon, damit es geschieht. Und nun geben die Menschen ihnen auch noch die Möglichkeit, sie zu beherrschen. Und auch das genügt, damit es geschehen kann.“ (ebd.) Es genügte also, dass die Rechtsordnung des Heute-Landes die Macht des Geldes seit ihren Anfängen bis in die Gegenwart gewähren ließ. So besteht sie noch immer und breitet sich, von der Polizei unbehelligt, weiter aus.

„Und wenn die Grauen Herren keine Zeit mehr stehlen könnten?“ – „Dann müssten sie ins Nichts zurück.“ (S. 153) Wenn eine der Natur angepasste Geldordnung es den ‚grauen’ Kapitaleignern unmöglich machen würde, den Menschen durch den Zins und Zinseszins ihre Lebenszeit zu stehlen, würden sie von ihrer widersprüchlichen Doppelrolle befreit. Während sie in ihrer ‚grauen’ Eigenschaft als „funktionslose Investoren“ eines „sanften Todes“ (Keynes) sterben würden[1], könnten sie als befreite Menschen in Gerechtigkeit und Frieden neu aufleben.

* * *

Nachdem Meister Hora Momo die Ursache der Zerstörung des Lebens erklärt hat, kann er nicht mehr länger tatenlos zusehen. Es wird Zeit für ihn zu handeln: „Bis jetzt habe ich darauf gewartet, dass die Menschen sich selbst von diesen Plagegeistern befreien würden.“ (S.242) Tatsächlich haben die Menschen ja auch selbst versucht, diese Plagegeister zu bändigen - aber vergeblich, denn die Hüter des freien Wettbewerbs hatten ebenso wenig wie die gewerkschaftliche Gegenmacht, die Polizei oder die Wissenschaften eine Vorstellung von den wirklichen Ursachen der Macht des Geldes. Alle Versuche der Menschen, sich allein aus eigener Kraft zu befreien, sind also gescheitert.

Nach alledem will Meister Hora nicht mehr länger warten. „Ich muss etwas tun“, bevor die Grauen Herren das Leben ganz vernichten. Andererseits - auch er „kann es nicht allein.“ (S. 242) „Könntest du es nicht ganz einfach so einrichten“, fragt ihn Momo, „dass die Zeit-Diebe den Menschen keine Zeit mehr stehlen können?“ – „Nein, das kann ich nicht“, antwortet Meister Hora, „meine Pflicht ist es, jedem Menschen die Zeit zuzuteilen, die für ihn bestimmt ist. ... Was die Menschen mit ihrer Zeit machen, darüber müssen sie selbst bestimmen. Sie müssen sich auch selbst verteidigen.“ ( S.159)

In Meister Horas Schöpfungsplan ist also weder eine Selbstbefreiung der Menschen vorgesehen noch ein Eingriff Gottes in das soziale Leben, mit dem es harmonisiert und in die kosmische Harmonie eingefügt werden könnte. Meister Hora weiß zwar, dass etwas geschehen muss; aber weder er noch die Menschen können die rettende Tat jeweils allein vollbringen. Dazu bedarf es der partnerschaftlichen Zusammenarbeit zwischen Meister Hora und Momos Freundeskreis unter den Menschen, die sich ihm verbunden und für die übrigen Menschen und die Natur mitverantwortlich fühlen. Stellvertretend für sie erklärt sich Momo bereit, Meister Hora bei der Rettung seiner Schöpfung zu helfen. Nach seinen Anweisungen soll sie den Weg zu den Tresoren in der Zentrale der Zeit-Sparkasse suchen und die eingefrorenen Geldvorräte mit ihrer Stunden-Blume berühren. Sie soll die Schöpfung Meister Horas vollenden, indem sie anstelle der grauen, das Leben zerstörenden Geldordnung eine den kosmischen Ordnungsprinzipien entsprechende lebendige Geldordnung aufrichtet, die den Zeit-Diebstahl fortan unmöglich macht.

* * *

Der neue Bund zwischen Meister Hora, Momo als Mittlerin zwischen ihm und den Menschen, ihrem Freundeskreis und der Natur erweist sich zuguterletzt als stärker als die das Leben zerstörende Macht des Geldes. Mit ihrer Stunden-Blume in der Hand und mit der Schildkröte Kassiopeia unter dem Arm nimmt Momo den Kampf gegen die Herrschaft des Geldes auf und besiegt sie schließlich auf wunderbare Weise. Es gelingt ihr tatsächlich, unbemerkt von den Grauen Herren bis zum Tresor vorzudringen und die eingefrorenen akkumulierten Geldvorräte mit dem letzten Blütenblatt ihrer schon welkenden Stunden-Blume zu berühren und „die ganze geraubte Zeit zu befreien“. (S. 244) Damit küsst Momo das schlafende Geld gleichsam wach.[2] Im Moment der Berührung vollzieht sich - im Sinne von Rudolf Steiners „alterndem Geld“ und Silvio Gesells „rostenden Banknoten“[3] - die Anpassung des Geldes an den ewigen Kreislauf des Werdens und Vergehens.

Nach dem Sieg über die Macht des Geldes und die Anpassung des Geldes an die Natur kehrt die „aufgetaute“ Zeit in die Herzen ihrer rechtmäßigen Eigentümer zurück. Nun setzt ein „warmer Frühlingssturm aus lauter befreiter Zeit“ ein (S. 263), den Momo in ihrer Freude über die Beseitigung des sozialen Missklangs aus der Harmonie des Kosmos wie einen „übermütigen Tanz nach einer herrlichen Musik“ empfindet. (S. 264) Während das graue Kapitalrentnertum eines „sanften Todes“ stirbt und ins Nichts zurückfällt, vereinigen sich die bisherigen Graue Herren als Menschen wieder mit den bislang ausgebeuteten Menschen zu einer freiheitlich und gerecht geordneten Gesellschaft, die sich ihrerseits mit der Natur wiedervereinigt. Geld und Güter fließen fortan dezentral und gleichmäßig durch die Gesellschaft, ohne dass sie noch länger in wenigen Händen akkumuliert werden können.

Schließlich nimmt der warme Frühlingsstrom Momo auf und trägt sie fort in das Morgen-Land - dorthin, wo die Menschen im Einklang mit Gott, mit der Natur und mit sich selbst leben und den Sinn ihres Daseins wiederfinden werden.

* * *

Michael Endes Märchen-Roman über die Macht des Geldes über die Menschen und über das kleine Mädchen Momo, das das Geld in einen Diener der Menschen verwandelt, ist eine literarische Komposition, in der jedes Wort sich wohlgeformt in das Ganze einfügt. Die Problematik des Geldes ist hier in ihren Gesamtzusammenhang von Ökonomie und Metaphysik eingebettet. Für uns, die wir mit der rauhen Wirklichkeit des ökonomischen Heute-Landes zurecht kommen müssen, liegt ihr großer Wert in der Zuversicht, dass das verwundete Heute-Land durch eine Änderung des Geldwesens heilbar ist und dass ihm ein in sozialer Hinsicht gesundes Morgen-Land folgen kann.

Bekanntlich zweifeln aber die ökonomischen Fachleute an dem Gedanken eines in die Natur integrierten Geldes. Und für sie ist auch fraglich, ob denn ein Dichter überhaupt kompetent ist für die Beurteilung ökonomischer Zusammenhänge. Darauf hat Michael Ende in seinem Märchenroman „Momo“ selbst eine Gegenfrage gestellt: „Was macht es für einen Unterschied, ob das alles in einem gelehrten Buch steht oder nicht? Wer sagt euch denn, dass die Geschichten in den gelehrten Büchern nicht auch bloß erfunden sind, nur weiß es vielleicht keiner mehr?“ (S. 39)

Anmerkungen
[1]  Der „sanfte Tod des Kapitalrentners“ bzw des „funktionslosen Investors“ wäre die erste tiefgreifende soziale Umwälzung - Keynes sprach von einem „wirtschaftlichen Gezeitenwechsel“ - , bei der keine Köpfe rollen. Es findet keine gegenseitige Vernichtung von Klassen oder Rassen statt. Vgl. dazu John Maynard Keynes, Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, Berlin 1936, Kapitel 23 und 24.
[2]  Dieses schöne Motiv der Heilung durch ihre Berührung mit einer Blume begegnet uns auch in „Jorinde und Joringel“, einem Märchen der Gebrüder Grimm. Nachdem Jorinde und Joringel sich dem Schloss der bösen Hexe zu sehr genähert haben und die Hexe Jorinde verzaubert hat, träumt Joringel von einer „ seltsamen roten Blume, in deren Mitte eine große Perle lag“. Nach tagelangem Suchen findet er schließlich diese Blume. Er kehrt mit ihr zum Schloss zurück und erlöst mit ihr Jorinde vom bösen Zauber der Hexe.
[3]  Rudolf Steiner, Kernpunkte der sozialen Frage (1919), Dornach 1972. - Silvio Gesell, Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freiland (1916), in: Gesammelte Werke Band 11, Lütjenburg 1991.