FORSCHUNG_5 | Kapitel 5.0 bis 9.0 |
zurück zur Übersicht |
5.0. Der Zins
Das Geld hat im Gegensatz zu den Waren keine Durchhaltekosten. Es ermöglicht dem Geldbesitzer durch diesen Vorteil, die günstigsten Momente des Kaufes auszuwählen. Es lässt sich folglich unbegrenzt und ohne große Lagerkosten vom Markt zurückhalten, während die Warenbesitzer, die auf das Geld als Tauschvermittler angewiesen sind, wegen der ständig wachsenden Verluste eine Zwangsgeldnachfrage haben. [63]
Der fehlende Angebotsdruck und die Möglichkeit abzuwarten, ermöglicht es dem Geldbesitzer, nun eine besondere Vergütung dafür zu erzwingen, dass er den Austausch der Ware nicht länger hinauszögert. Dasselbe Verhältnis gilt für Kreditnehmer und Kreditgeber mit demselben Mehrwerteffekt für den Geldbesitzer. [64] Im Gegensatz zu Marx, der die Entstehung des Mehrwerts aus dem Ausbeutungsverhältnis von Kapital und Arbeit ableitet, entsteht so der Mehrwert für die Freigeldtheorie aus diesen Geldverhältnissen.
Diesen Mehrwert nennt Gesell den Urzins, der für ihn wie ein Brückenzoll des Warenverkehrs ist: „Der König wie der Geldgeber tun im Grund nichts, sie sperren nur und erheben Zins. Der Urzins ist also, wie der Grenzzoll, eine Abgabe, nur mit dem Unterschied, dass der König mit dem Zoll Staatsausgaben bestreitet, während der Geldgeber den Urzins für sich verwendet. Wir bezahlen im Urzins also weiter nichts als die Tätigkeit des Kapitalisten, die darin besteht, dem Handel Steine in den Weg gewälzt zu haben.“ [65]
So belastet das Geld, das eine effektive Marktwirtschaft überhaupt erst ermöglicht, eben diese Marktwirtschaft zugleich durch das „Zinspfründesystem“, das dieses Geld mit sich bringt. [66]
J. M. Keynes nimmt in seiner Theorie des Zinsfusses die Liquiditätspräferenz als Bestimmungsfaktor auf und stellt fest, dass der Urzins, den er Zinsfuß nennt, „weiter nichts ist als das umgekehrte Verhältnis zwischen einer Summe Geld und dem, was für die Aufgabe des Verfügungsrechts über das Geld im Tausch gegen ein Darlehn für einen bestimmten Zeitabschnitt erhalten werden kann.“ [67] Der Zinsfuß ist also die Belohnung für die Aufgabe der Liquidität und ein Maß für die Abneigung der Geldbesitzer, sich von der liquiden Geldverfügung zu trennen. Er ist auch nicht, wie in der Neoklassik, der Gleichgewichtspreis von Geldangebot und Geldnachfrage, sondern der Preis für den Liquiditätsverzicht.
Keynes setzt allerdings mit seiner Definition des Eigenzinsfusses von Wirtschaftsgütern allgemeiner an als Gesell, da es verschiedene Grade von Liquidität und Durchhaltekosten bei den Wirtschaftsgütern gibt. Der Eigenzins eines Gutes wird daher definiert als Erträgnisse minus Durchhaltekosten plus Liquiditätsvorteil. Angewendet auf das Geld zeigt sich dann, dass die Erträgnis des Geldes null, die Durchhaltekosten verschwindend, die Liquiditätsprämie jedoch erheblich ist. [68]
Die Nutzung dieses Geldvorteils führt zu Zinserträgen der Geldbesitzer, die in der Freigeldtheorie als „arbeitslose Zinseinkommen“ bezeichnet werden und durch die Behaftung der Kassenhaltung mit Durchhaltekosten unmöglich gemacht werden sollen.
Die Höhe des Urzinses wird mit durchschnittlich 4 – 5% angegeben, ein Betrag, den Gesell empirisch aus der historischen Betrachtung nimmt und mit dem Kostenvorteil des Geldtausches im Vergleich zum Realtausch begründet. [69]
Dieser Beobachtung entstammt auch die empfohlene Höhe des Schwundes beim Freigeld von 5,2%, also etwas über dem Urzins, um diesen sicher aufzuheben.
Der Zins funktioniert in unserer Wirtschaft jedoch auch als Umlaufsicherung des Geldes. Als besagte Belohnung für die Aufgabe von Liquidität sorgt er dafür, dass die Wirtschaft mit den notwendigen Kreditmitteln für Investitionen ausgestattet werden kann. Indem der Zins als Anreiz dafür sorgt, dass Geld von denjenigen, die es erübrigen können, zu denen kommt, die es brauchen, wird es im Umlauf gehalten.
Problematisch ist dabei aber die Abhängigkeit dieses Effekts von der Zinshöhe. Bei niedrigen Zinsen verliert sich der Anreiz der Belohnung und die Bereitschaft zur Geldfreigabe nimmt ab. Die Wirkung der Zinsen, das Geld im Umlauf zu halten, ändert sich also mit der Zinshöhe. [70]
5.1. Der Urzins, die Rendite u. andere Zinsteile
Gibt man den Vorteil des Geldes auf, um es in eine Sachanlage zu investieren, wird unter ökonomischen Gesichtspunkten erwartet, dass diese Investition ebenfalls einen Mehrwert erbringt, der mindestens der Höhe der entgangenen Geldanlagezinsen entspricht. „Wenn der Zinsfuß 3% ist, bedeutet dies, dass niemand 100 Pfund für eine Maschine bezahlen wird, wenn er nicht hofft, dadurch 3% nach Abzug der Kosten und Entwertung seiner jährlichen Reinproduktion zuzufügen.“ [71]
Dieser Zins auf Sachanlagen wird auch bei Häusern die Miete und bei Investitionen die Rendite genannt. Davon zu unterscheiden ist der Gewinn, der nicht wie der Zins auf Geld- und Sachanlagen ein Einkommen aus Kapitalbesitz ist, sondern der Saldo aus der Einnahmen – Ausgaben – Rechnung einer unternehmerischen Tätigkeit. [72]
Auf den Urzins kommt in der Regel ein Knappheitsaufschlag als Ausdruck von Angebot und Nachfrage am Kapitalmarkt. Zusammen ergeben sie den s.g. Realzins. [73]
Nach dem Fischer – Effekt bestimmt sich der Nominalzins aus dem Realzins zuzüglich der erwarteten Inflationsrate. Relevant für Investitionsentscheidungen ist aber nur der Realzins. [74]
Ein bankvermittelter Kredit kennt noch andere Zinsarten, die gemeinsam mit dem Urzins + Inflationsausgleich den Kreditzins ausmachen. Zum einen der Betriebskostenanteil der Bank, mit dem diese den für die Vermittlung von Krediten notwendigen Aufwand bestreitet, also eine Dienstleistungsvergütung. Zum anderen der Risikoanteil, mit dem das Kreditverlustrisiko abgedeckt wird. [75]
5.2. Der Zins und Zinseszins
Zinszahlungen erfolgen in der Regel jährlich. Wird einer einmal getätigten verzinslichen Geldanlage nichts entnommen, erhöht sich die angelegte Summe jedes Jahr um die Zinszahlung und wird wiederum verzinst. Da Zinsen gleichbleibende Prozentbeträge auf die Gesamtsumme sind, bedeutet dieser Zinseszinseffekt rechnerisch ein exponentielles Wachstum des Geldvermögens. [76]
Diese Überlegung veranlasst vor allem die neuere Freigeldtheorie zur Perhorreszierung übler Folgewirkungen und den baldigen Zusammenbruch des kapitalistischen Systems. Da jeder Zinsleistung auch ein Zinsdienst gegenübersteht, vergrößert exponentiell wachsendes Geldvermögen auch einen ebenso wachsenden Schuldenberg am anderen Ende. [77] Diese steigende Zinslast der Unternehmen übt, um bedienbar zu bleiben, einen Wachstumsdruck auf die Wirtschaft aus, der zu beschleunigter Umweltzerstörung führt. [78]
Durch die renditevermittelte Anlage der Geldvermögen in Sachkapital wächst auch der Kapitalstock rasant, bis aufgrund der mangelnden Knappheit die Renditen sinken.
Zumindest die letztgenannte Überlegung ist in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur häufiger anzutreffen, z.B. bei Keynes: „Ich bin überzeugt, dass die Nachfrage nach Kapital streng begrenzt ist, in dem Sinne, dass es nicht schwierig wäre, den Bestand an Kapital bis zu einem Punkt zu vermehren, auf dem seine Grenzleistungsfähigkeit auf einen sehr niedrigen Stand gefallen wäre.“ [79]
Dieser „tendenzielle Fall der Profitrate“ ist für die Vertreter der jüngeren Freigeldtheorie die Ursache periodischer Kapitalzerstörungen wie Rüstung und Krieg.
Obwohl diese Erscheinungen in der Einzelbetrachtung ernst genommen werden sollten, ist ihre Zusammenstellung in stringenten Ereignisketten bedenklich.
Bemerkenswerterweise ist der Zins in solchen Zusammenhängen nicht mehr „arbeitsloses Einkommen“, das auch wieder in den Konsum fließen kann, sondern ausschließlich ein Multiplikator der Geldvermögen. Auch altert der Kapitalstock nicht und in den Auswirkungen harmlosere, beim Geldvermögen selbst beginnende, Kapitalzerstörungen wie z.B. vermehrte Kreditausfälle in Rezessionen und das Platzen von Spekulationsblasen werden hingegen nicht thematisiert.
Gesell selbst ging noch von einer Unstillbarkeit menschlicher Bedürfnisse aus und wollte mit dem Freigeld das Wachsen des Kapitalstocks noch beschleunigen, damit wegen der veränderten Knappheitsverhältnisse der Urzinses auf null fällt. Darin sah er die Möglichkeit, die Arbeit aus der Knechtschaft des Kapitals zu befreien und die kapitalismusbedingten Ungerechtigkeiten, Ungleichverteilungen und Ausbeutungen aus der Marktwirtschaft zu bannen. [80]
5.3. Die Umwälzung der Zinsen auf die Preise
Die Umverteilung von Arm nach Reich durch den Zins geschieht entweder direkt durch die Bezahlung von Zinsen für Konsumentenkredite oder Sachkapitalzinsen wie Miete bzw. Pacht oder indirekt, wenn Unternehmen die Zinsen für Fremd- und Eigenkapital als Kosten in die Preiskalkulation integriert und sich diese Preise am Markt durchsetzen lassen. [81]
Für das Ausmaß dieser Zinsüberwälzung schätzt Creutz den aggregierten Zinsanteil in den Preisen auf durchschnittlich 33%. Selbst ein Gegner der Freigeldtheorie wie Niederegger kommt immerhin noch auf ca. 10%. [82] Wenn es dem Freigeld gelänge, den Zins abzuschaffen, würden sich die Reallöhne also um 10 – 33% erhöhen. Die Sparneigung könnte dadurch deutlich ansteigen. Der absolute Ersparniszuwachs würde den Zinsverlust mehr als wett machen. [83] Wenn man berücksichtigt, dass wichtige Ausgaben wie Mieten einen Zinsanteil von 75% haben, mag sich das Verhältnis zusätzlich zugunsten der Freigeldtheorie verändern.
6.0. Die hypothetischen Auswirkungen des Freigelds auf die Teilmärkte und auf die Konjunktur
Für die Freigeldtheorie ist eine der Hauptursachen für die Instabilität der Wirtschaft die Hortung von Geld. Das bedeutet für den realen Sektor, durch die Zurückhaltung von Geld entstehen Nachfrageausfälle, die zu periodischen Krisen und Arbeitslosigkeit führen.
Geldhortung ist empirisch vor allem in Niedrigzinsphasen zu beobachten, wenn die Zinszahlungen keinen Anreiz mehr bieten, die Liquidität, die das Geld seinem Besitzer verleiht, aufzugeben und es als Kredit für neue Investitionen zu verleihen.
So war eine unverhältnismäßige Geldmengenerhöhung von 27% in der Niedrigzinsphase von 1986 – 88 bei einem Wachstum von 6% und einer Inflation von 3% ein beredtes Beispiel einer Bargeldhortung bzw. Spekulationskassenhaltung in solchen Niedrigzinsphasen. [84]
Die entsprechenden durchschnittlichen Angaben für 2003 belaufen sich bei einem BIP Wachstum von 0,4% zuzüglich 2,1% Inflation auf eine Ausweitung der Geldmenge M1 um 11,0%. [85] Ob die auch hier erkennbare Differenz tatsächlich in der privaten Geldhaltung verschwindet oder z.B. für Staatsausgaben verwendet wird, ist diesen Daten allein jedoch nicht zu entnehmen.
Aber auch die gehorteten, baren Gelder aus der Schattenwirtschaft (z.B. Schwarzgeld) und aus illegalen Einkünften (z.B. Drogengeld) werden der inländischen Wirtschaft auf unbestimmte Zeit entzogen.
Dazu kommen die s.g. „Weichwährungsländer“, in denen harte Währungen als komplementäres Zahlungsmittel zusätzlich zur eigenen Währung in ausländischen Wirtschaftskreisläufen zirkulieren. [86]
Da, wie wir gesehen haben, für die Freigeldtheorie die Menge der Zahlungsmittel gleich der Nachfrage ist, bringt die Hortung den Gütermarkt aus dem Gleichgewicht, indem sie dem Sozialprodukt das Nachfragepotenzial entzieht. Die Folge ist ein Angebotsüberhang der Güter der zum Verfall der Preise führt. [87] Dieser unmittelbare Zusammenhang von Hortung und Deflation ist aber seit der Abkehr vom Goldstandard nicht mehr zwingend gegeben, die Notenbanken gleichen die Hortung einfach durch die Erhöhung der Geldmenge aus. Dies geschieht durch eine erhöhte Nachfrage der Geschäftsbanken nach Zentralbankkrediten. Die dafür zu zahlenden Zinsen erhöhen die Kreditkosten. Die Unternehmen müssen diese Kostenerhöhung entweder über die Preise weitergeben oder selbst Kosten einsparen, z.B. durch Entlassungen. Die Hortung macht aber auch eine zielgerichtete auf das Sozialprodukt abgestimmte Geldmengenpolitik unmöglich. Kommt gehortetes Geld zusätzlich zur eben angepassten Geldmenge auf den Markt zurück, entsteht ein Nachfrageüberhang auf dem Gütermarkt und führt zu steigenden Preisen. [88] Geldhortung führt also heute eher zur Verstärkung von Inflation und durch die Verknappung der Kreditmittel zu tendenziell steigenden Zinsen.
6.1. Der Güter- und Arbeitsmarkt
Die Freigeldtheorie geht in einer ihrer zentralen Thesen davon aus, dass mit der Einführung von Freigeld die rationalen Gründe einer Geldhortung wegfallen. Geld, das an Wert verliert, wenn es gehalten wird, sollte dann aufgrund dieser Rationalität so schnell wie möglich weitergegeben werden. Die eben beschriebenen Unwägbarkeiten der Geldmengensteuerung wären ausgeräumt, eine an das Sozialprodukt angepasste Geldmengensteuerung wäre unverzerrt möglich. Eine der Folgen wäre eine ungestörte Gütererzeugung u. -tausch ohne Wirtschaftsstockungen. Eine andere die ungehinderte Kapitalstockerhöhung, da Gewinne re-investiert werden und damit die Renditen, z.B. Mieten, fallen. Da Kreditmittel nicht mehr knapp sind, fallen die Zinsen bis auf einen Wert um Null, der bisher in den Preisen enthaltene Zinsanteil geht zurück. [89]
Länder mit niedrigen Zinsen haben im internationalen Wettbewerb durch die günstigen Investitionskosten zusätzliche Standortvorteile für produzierende Industrien.
Darüber hinaus würden sich durch die zinsanteilbereinigten Preise die realen Arbeitseinkommen erhöhen, was vor allem bei schwachen Einkommensschichten mit einer hohen Konsumquote zusätzlich die Nachfrage steigert. [90]
Da gespartes Geld keine Zinsen mehr erhält, würde das Kapital vollständig als Investitionskredite in die Produktionssphäre fließen und so real das Gleichgewicht auf dem Gütermarkt herstellen, indem Konsum und Sparen tatsächlich gleich dem Volkseinkommen ist. [91]
Durch den Weitergabezwang und der Identität von Geld und Nachfrage würde eine sukzessive Geldmengenerhöhung genügen, um Mehrproduktion zu generieren und so die Arbeitslosigkeit bis zur Vollbeschäftigung abzubauen. [92] Diese etwas simpel wirkende Annahme wird vor allem von Creutz durch eine Erklärung der Arbeitslosigkeit aus dem Zusammenspiel von Inflation, Zins und Verschuldungsgrad der Unternehmen erweitert. Er stellt dabei zunächst empirisch eine hohe Korrelation von Hochzinsphasen mit einem zwei bis drei Jahre verzögerten Anstieg der Arbeitslosigkeit fest. [93] Für die Hochzinsphasen macht er die Einberechnung einer vorab gestiegenen Inflationsrate, verursacht durch zu großzügig gehandhabte Geldmengenpolitik, verantwortlich. [94] Die gestiegenen Zinsen erhöhen nun ihrerseits die Zinslasten der Unternehmen für das Fremdkapital. Verschuldete Unternehmen antworten auf diesen steigenden Kostendruck mit Investitionsrückstellungen und wenn die Preisüberwälzung am Markt nicht durchgesetzt werden kann, kommt es zu Entlassungen oder sogar zum Konkurs. Liquide Unternehmen entschärfen die Lage nicht, da sie ebenfalls Investitionen zurückhalten, weil es für sie attraktiver ist, das überschüssige Betriebsvermögen wegen der hohen Verzinsung auf dem Kapitalmarkt anzulegen. [95]
Die Tatsache, dass bei sinkenden Zinsen nicht umgekehrt die Arbeitslosigkeit zurückgeht, führt Creutz zum einen auf den, vor allem in Hochzinsphasen, stetig wachsenden Gesamtverschuldungsgrad zurück, der die Zinslast in absoluten Zahlen auch in den folgenden Zinssenkungsphasen sogar steigen lässt. Zum anderen bemängelt er den Flächentarifvertag, der zu starren Löhnen führt und befürwortet daher flexible Löhne durch Betriebsvereinbarungen. Diese ermöglichen es, dass z.B. in den USA, trotz der Verschuldungszuname, Zinssenkungen in der Regel zu Mehrbeschäftigung führen, da die Unternehmen im vorausgegangenen Konjunktureinbruch nicht entlassen oder schließen müssen. [96]
Diese Überlegungen von Creutz bedeuten natürlich nicht, dass er nicht ebenfalls dem Mechanismus des Freigeldes zutraut, die Ursache der Inflation und den Zins langfristig zu unterbinden, um dann, wie oben beschrieben, durch nachfragewirksame Geldmengenausweitung zu stabiler Vollbeschäftigung zu kommen.
6.2. Der Geldmarkt
Die Freigeldtheorie sieht Sparen und Investitionen in Abhängigkeit vom Zins wie im neoklassischen Geldmarkt, hält diesen aber nicht für einen, durch den am Kapitalmarkt begründeten Zins fixierten, Gleichgewichtsmarkt. Das Ungleichgewicht am Geldmarkt erklärt sie, ähnlich wie Keynes später in seiner Liquiditätspräferenztheorie, durch eine spezielle Motivlage der Geldbesitzer, die diese bei zu niedrigem Zins zur Geldzurückhaltung veranlasst. Die Gesamtgeldmenge unterscheidet sich also vom tatsächlichen Geldangebot um den Betrag der Hortung, der jederzeit unerwartet auf den Geldmarkt zurückkehren kann. Damit ist der Zins kein echter Gleichgewichtspreis, sondern ein unstabiler Ausdruck der Liquiditätspräferenz und dem Knappheitsverhältnis von Geldangebot u. -nachfrage.
Die Verhinderung der Hortung durch das Freigeld stellt das Gleichgewicht von Gesamtgeldmenge und Geldnachfrage her, löst aber durch die angestrebte Überwindung des Zinses den Geldmarkt als solchen auf.
6.2.1. Die Kreditvermittlung mit Freigeld
Die Kreditvermittlung kann auch mit dem Freigeld weiter von den Geschäftsbanken übernommen werden. Die Sparer bringen ihr überschüssiges Geld auf die Bank und die verleiht es, z.B. für eine Investition. Der Sparer bekommt aber für seine Einlage keine Zinsen, dafür schwindet der eingezahlte Betrag nicht. Die Bank erhält, wie bisher, einen Risikoabschlag und eine Vermittlungsgebühr, gibt aber darüber hinaus den Kredit ebenfalls zinslos weiter. Ein Inflationsausgleich ist nicht mehr notwendig, da es keine Preisschwankungen mehr gibt. [97] Der Kreditnehmer zahlt die entliehene Summe zurück und gleicht den Schwund aus. Da die Investition zumindest diesen Ausgleich erwirtschaften muss, bleibt eine Kreditselektion die bisher durch den Zins geleistet wird, erhalten. Um die Giralgeldschöpfung und die damit verbundene Doppelnutzung von Sichteinlagen als Nachfragepotential und Kreditmittel sowie deren Vermengung durch die Geschäftsbanken zu vermeiden, soll der Bereich des Geldes mit unmittelbarer Kaufkraft z.B. Bargeld bzw. Giralgeld strikt von längerfristigen Bankguthaben mit Kaufkraftverzicht unterschieden und von den Banken, per Gesetz verpflichtet, getrennt geführt werden. Nur die Geldformen mit unmittelbarer Kaufkraft werden mit dem Schwund belegt. Durch die Trennung der beiden Bereiche wird auch die Transparenz für die Zentralbank erhöht, die nun leichter die Geldmenge an den Bedarf anpassen kann. [98]
Folgerichtigerweise muss selbstverständlich auch jede Form von Guthabenverfügung durch die Anleger unterbunden werden, die dazu geeignet wären, dem Freigeldschwund zu entgehen und trotzdem liquide zu sein, z.B. durch die Hinterlegung langfristiger Anlagen für einen Konsumkreditrahmen.
6.2.2. Die Auswirkung auf den Zins
Um dem Schwund des eigenen Geldes zu entgehen, werden die Sparer ihr nicht benötigtes Geld also langfristig anlegen. Die Wertstabilität der Anlage ist die Belohnung für aufgeschobenen Konsum. Da kein Geld zurückgehalten wird und die Geldmenge der Investitionsnachfrage angepasst ist, wird es damit keine Knappheit der Kreditmittel mehr geben. In der Folge würde sich der Zinsfuß nicht mehr eintreiben lassen und, wo noch vorhanden, bis auf null sinken. Der Zins muss also nicht gesetzlich verboten werden, sondern ließe sich gemäß dem Verspechen der Freigeldtheorie überwinden. Spekulatives umsteigen aus der Geldhaltung in Gold, Kunstwerke, Antiquitäten o.ä. ist unbedenklich, da lediglich ein Austausch von Geld gegen Güter stattfindet, bei dem das Tauschmittel weiterhin im Umlauf bleibt. Geldanlagen, um die Geldhaltungskosten zu umgehen, sind sogar erwünscht, weil die Vermehrung von Sachgütern zusätzlich auf deren Ertragszinsen drückt. Eine Ausnahme ist die Bodenspekulation, die mit entsprechend hohen Steuern unterbunden werden muss, da alles Wirtschaften auf den Boden angewiesen ist. [99] Ein Teil von Gesells „Natürlicher Wirtschaftsordnung“ beschäftigt sich explizit mit einer Bodenreformtheorie, die aber nicht Bestandteil unserer Erörterung, die sich nur mit der Freigeldtheorie auseinandersetzt, sein soll. Die Möglichkeit, auf ein Sachgut als Komplementärwährung auszuweichen, wie es sich aus den Eigenzinsüberlegungen von Keynes ergibt z.B., dass Gold die Rolle eines zinsbringenden Zahlungsmittels ausfüllt, wenn Geld keinen Zins mehr erbringt, [100] lehnt die Freigeldtheorie, angesichts des exklusiv, gesetzlich anerkannten Tauschmittels mit Annahmezwang, wegen der Umständlichkeit und der Risiken ab. Außerdem wird von einem großen Zufriedenheits- u. Vertrauensgrad der Bevölkerung ausgegangen, sobald für diese die positiven Effekte des Freigeldes evident werden.
6.3. Das Ausland
Ausländische Exporteure müssten weiterhin Freigeld gegen Devisen eintauschen, um ihre Verbindlichkeiten im Inland begleichen zu können. Auf diesem Weg wäre das Freigeld umgehend wieder auf dem inländischen Markt. Darüber hinaus gehende Geldflucht in ausländische Währungen dürfte an den Schwierigkeiten scheitern, einen Tauschpartner zu finden, der sein Geld mit für beide Seiten interessanten Konditionen gegen Schwundgeld eintauscht, ohne einen solchen direkten Verwendungszweck zu haben. [101]
Es könnte sich jedoch tendenziell die Neigung verstärken, im Inland erworbene Kapitalgüter direkt ins Ausland zu schaffen und dort zu produzieren. Diese Form des Kapitalexportes, auf der Suche nach den besten Renditen, ist heute bereits gebräuchlich. Es ist ex ante sehr schwer abzuschätzen, in wie weit Freigeld diesen Effekt verstärkt oder ihm durch die Schaffung günstiger Rahmenbedingungen im Inland sogar entgegenwirken kann.
6.4. Die Konjunkturtheorie der Freigeldtheorie
Konsequent lehnt Gesell sämtliche Versuche, den Konjunkturzyklus aus Vorgängen der realen Sphäre zu erklären, ab und setzt stattdessen eine eher monetäre Konjunkturtheorie.
Durch Überproduktion und Kapitalstockerhöhung während der Hochkonjunktur beginnen die Zinsen und Renditen zu sinken. Ab einem bestimmten Punkt beginnen die Geldbesitzer deshalb ihr Geld zurückzuhalten und warten auf einen Wiederanstieg. Das so gehortete Geld bedeutet einen Nachfrageausfall und es kommt zu einem Angebotsüberhang. Dadurch sinken die Preise. Die Aufträge des Handels gehen wegen des Preisverfalls zurück und die Produktion wird heruntergefahren. Es kommt zu Entlassungen und Einkommensverlusten, die wiederum auf die Nachfrage drücken. [102] Diese Abwärtsbewegung kommt erst zur Ruhe wenn genug Kapital zerstört ist und durch diese Verknappung der Zins wieder steigt und das Geld wieder auf den Markt lockt.
Es ist jedoch festzustellen, dass empirisch, zumindest in der Nachkriegsvergangenheit, Konjunkturkrisen eher mit Hochzinsphasen korrelierten als umgekehrt. [103] Allerdings lassen sich in den jüngsten Krisen in Japan und aktuell in Deutschland auch Entwicklungen beobachten die, trotz niedriger Zinsen, Nachfragezurückhaltung und Rezession mit deflatorischen Tendenzen weder verhindern noch aufheben.
Keynes schließt vielleicht diese Lücke, indem er die Krisenursache in der „Erwartung fallender Renditen“ ausmacht, deren Wahrscheinlichkeit bei einem hohen Zinsniveau durchaus zunimmt. [104] Die einsetzende Investitionszurückhaltung bei boomgefüllten Kassen wäre dann vergleichbar zur gesellschen Geldzurückhaltung. Es wird auch nicht ganz klar, welche Art Zinsen Gesell meint, spricht er doch u.a. vom „Zins den Industrie und Handel abwirft“. [105]
Eine reine Geldmengenausweitung zur Nachfragebelebung, wie sie seinerzeit schon im Vorschlag zur Emissionsreform zum Ausdruck kam, lehnt Gesell entschieden ab. Da der niedrige Zins den Geldumlauf nicht sichern kann, verpufft jedes zusätzliche Geld in der Hortungskasse. Im Gegenteil, kommt das gehortete Geld später unerwartet als Übernachfrage auf den Markt zurück, kann die Zentralbank nicht mehr reagieren und es kommt unvermittelt zu einer Hyperinflation. [106] Kommt nun noch eine Niedrigzinspolitik hinzu in der Absicht, die Renditen hochzuhalten und die Investitionszurückhaltung zu hemmen, werden die Geldbesitzer durch die niedrigeren Zinsen zu noch mehr Hortung veranlasst und die Geldmenge muss immer mehr ausgeweitet werden, um die ausfallenden Nachfragemittel zu ersetzen. [107]
Freigeld dagegen kann den Geldumlauf zuverlässig auf einem hohen Niveau stabilisieren und es sorgt dafür, dass Geldangebot und Güternachfrage identisch und durch die Geldmenge steuerbar sind. Damit würden Inflation und Deflation unmöglich und Konjunkturkrisen, mit ihren schlimmen sozialen Folgen, gehörten, mit dieser erreichten Preisstabilität, der Vergangenheit an. [108]
7.0. Die Inflation im Vergleich zum Schwund
Von Freigeldgegnern wird häufig argumentiert, eine moderate Inflation erfülle bereits die Aufgabe einer Umlaufsicherung durch gleichmäßige Geldentwertung und rege darüber hinaus die Wirtschaftstätigkeit an. Die Einführung eines künstlichen Geldschwundes sei daher unnötig.
Wie unterscheidet sich nun die Inflation vom Schwund?
Zunächst einmal wird bei Inflation die Verminderung der Geldkaufkraft über das Steigen der Preise vermittelt. Geschieht dies gleichmäßig und wird der entstehende reale Kaufkraftverlust durch Anpassung der Nominallöhne ausgeglichen, scheint dieser Vorgang tatsächlich unbedenklich zu sein. Ein Problem entsteht jedoch dadurch, dass Tarif-, Kredit-, Miet- u. Lieferverträge die Vertragspartner für eine bestimmte Zeit zu konstanten Preisen verpflichten. [109]
Wenn z.B. bei einem Preisanstieg die Gewinne sofort nominal steigen, die Löhne aber erst bei neuen Tarifabschlüssen um ein Jahr verzögert nachziehen, kommt es in der Zwischenzeit zu einer realen Umverteilung von den Lohnempfängern, die sofort die höheren Preise bezahlen müssen, zugunsten der Gewinne. Bei Kreditverträgen sind zunächst die Schuldner im Vorteil aufgrund der real sinkenden Zinslast. Die Gläubiger werden aber sehr bald einen Inflationsausgleich ihrer Zinseinnahmen durchsetzen. Kleinsparer haben hingegen keine so große Marktmacht, ihr Zinsertrag verringert sich in der Höhe der Inflation. Übersteigt diese den Sparzins, kommt es sogar zum Schrumpfen der Ersparnis selbst. Zusätzlich werden die Unternehmen versuchen, die gestiegenen Fremdkapitalzinsen, die höheren Löhne und ihre gestiegenen Roh- u. Hilfsstoffkosten wiederum auf die Preise umzulegen. Wo dies gelingt, würde durch die Anpassung der Geldmenge an die gestiegene nominale Nachfrage der nächste Inflationsschub ausgelöst. [110] Die Hauptlast der Inflation trägt also der Konsument, wenn man bedenkt, dass von diesen bei weitem nicht alle in der Lage sind, ihr Einkommen anzupassen, z.B. Transferzahlungsempfänger, wird die Umverteilungswirkung von Inflation deutlich.
Die soziale Belastung von Preiserhöhungen ist ebenfalls ungleich verteilt, da z.B. ein Lebensmittelpreisanstieg die Grenzleistungsfähigkeit der Einkommen der Geringverdiener und Transferempfänger mehr belastet, als die der hohen Einkommen.
Im Gegensatz dazu verspricht das Schwundgeld stabile Preise bei gleich- u. regelmäßigem Geldkaufkraftverlust. Dieser kann darüber hinaus subjektiv bestimmt werden, da der Schwund vom jeweiligen Geldinhaber zum Stichtag getragen wird. So kann durch eine schnelle Verausgabung des Einkommens die einzelne Belastung durch den Kaufkraftverlust, anders als bei Inflation, individuell gesteuert werden.
7.1. Die Inflation als Umlaufsicherung
Die Eignung der Inflation zur Verstetigung des Geldumlaufs kann ebenfalls bezweifelt werden. Die Inflation ist als Kostenfaktor eventuell nicht genügend konkret erfahrbar, schon gar nicht in einer bestimmten Prozenthöhe. Unterschiedliche Preise werden in erster Linie unterschiedlichen Anbietern und Qualitäten zugeordnet. Wer sich für hohe Kassenhaltung entscheidet, dürfte dabei eine bestimmte Produktauswahl im Auge haben, und deren Preisentwicklung bestimmt sein Verhalten. Für eine kontinuierliche Umlaufsicherung ist aber wichtig, dass die Geldhaltung konkrete Kosten pro Geldeinheit verursacht und nicht ein durchschnittlicher Wert auf das gesamte Geldvolumen ist. Hinzu kommt, dass die Umlaufsicherung, mehr als auf die Verbraucherhaushalte, auf die hohen liquiden Kassen institutioneller Anleger und großer Geldvermögen abzielt. Um auf diese Druck auszuüben, müsste die Ermittlung der Inflation von der Indexierung der Verbraucherpreise eher auf Erzeuger- oder Großhandelspreise umgestellt werden. [111]
7.2. Die Inflation und die „Nullschranke“ des Nominalzinses
Aufgrund der wirtschaftlichen Entwicklung in Japan, deflationäre Tendenzen bei Nominalzinsen um Null und anhaltender Rezession, wird zunehmend diskutiert, ob hier nicht eine lange für unwahrscheinlich gehaltene Liquiditätsfalle eingetreten ist. Aus dieser gibt es bislang kein kurzfristiges Entrinnen mittels traditioneller Geldpolitik. Die Nominalzinsen können typischerweise nicht unter Null gesenkt werden und Geldmengenerhöhungen verschwinden in der Spekulationskasse. Da fiskalpolitische Maßnahmen, wegen der angespannten Haushalte und hoher Staatsverschuldung eng begrenzt sind, wird darüber nachgedacht, ob eine künstliche, moderate Inflation eine Lösung anbietet. [112]
Mit der s.g. Nullschranke der Nominalzinsen ist die Gefahr einer Verfestigung deflationärer Erwartungen verbunden und diese erhöht, über den bereits erwähnten „Fisher – Effekt“, den Realzinssatz. Das kann zu einer Liquiditätsfalle und deflationären Spirale führen. Eine Inflation würde dagegen zu einer Verringerung des Realzinses beitragen und somit die aggregierte Nachfrage stimulieren. Daher wird zur Prävention des Nullschrankenproblems die Verfolgung langfristig positiver Inflationsraten empfohlen. [113]
Das Problem dieser überzeugenden Überlegung sind die Instrumente zur Umsetzung einer künstlichen, konstanten Inflation. Sie reichen von Krugmans Vorschlag durch gezielte Informationspolitik die psychologische Wirkung zukünftiger Inflationserwartungen in Sinne einer „selffulfillig prophecy“ zu schüren, [114] über die Verpflichtung der Notenbank, die Nominalzinsen über einen längeren Zeitraum auf Null zu belassen, um Raum für eine Senkung der langfristigen Kreditzinsen zu schaffen und so die Nachfrage anzuregen, bis zum „Import von Inflationserwartung“ durch Intervention am Devisenmarkt um die eigene Währung ungleichgewichtig abzuwerten und damit die Exportnachfrage anzuregen und Importe zu verteuern. [115]
Gegenüber diesen, eher unbefriedigenden Lösungsansätzen, wäre bei einer freigeldtheoretischen Steuer auf Bar- u. Buchgeldbestände die Nullschranke als Beschränkung nicht mehr existent. Sie kann von der Zentralbank nach Belieben in den negativen Bereich verschoben werden. Da die untere Schranke der Nominalzinsen eine notwendige Bedingung der Liquiditätsfalle ist, kann diese durch eine Liquiditätssteuer praktisch ausgeschlossen werden. Ob ein Vertrauensverlust bei der Entwertung eines nominal nicht fixierten Tauschmittels bei konstantem Preisniveau, wie befürchtet wird, eher eintritt als bei der bisherigen Entwertung eines nominalwertstabilen Tauschmittels durch Erhöhung des allgemeinen Preisniveaus, ist fraglich. [116]
8.0. Die Kritik an der Freigeldtheorie
Die grundsätzlichste Kritik, die man der Freigeldtheorie insgesamt entgegenhalten muss, ist die Hinterfragung der Konsistenz der Quantitätstheorie. Da sie die Basis der freigeldtheoretischen Argumentation ist, kommt ihr für das Zutreffen der angenommenen Ursache – Wirkungs – Zusammenhänge eine entscheidende Bedeutung zu. Die Anschauung, dass die Kaufkraft des Geldes von der Geldmenge abhängt, entspringt einem mechanistischen Weltbild und hängt eng mit der liberalistischen Auffassung von der Naturgesetzlichkeit der wirtschaftlichen Vorgänge zusammen. Der Mensch als interagierendes Wirtschaftssubjekt mit seinen Erwartungen und Irrationalitäten kommt ebenso wenig vor, wie eine historische oder regulative Betrachtungsweise.
Darüber hinaus bezeichnet Böhler die Quantitätsgleichung als reine Definition des Durchschnittspreises, die nichts aussagt. „Sie ist kein Beweis für die Richtigkeit der Quantitätstheorie, der nur empirisch – statistisch geführt werden kann. Das ergibt sich, seiner Meinung nach, schon daraus, dass die Gleichung lauter Unbekannte enthält. Am meisten wissen wir noch über den vorhandenen Geldbestand, aber selbst hier herrscht Uneinigkeit über die korrekte Zusammensetzung der relevanten Geldmenge. Problematischer ist die Umlaufgeschwindigkeit, die regional unterschiedlich und sehr schwer fassbar ist. Ebenfalls bruchstückhaft ist unsere Kenntnis über den Güterumsatz, der nicht identisch mit der Produktion oder dem Volkseinkommen ist, da die Güter, vor allem Rohstoffe, mehrmals umgesetzt werden, bevor sie endgültig verarbeitet sind. Ferner sind im Umsatz die Aktien- u. Obligationenumsätze, die Grundstückumsätze, die Lohnzahlungen usw. enthalten, so dass wir jedenfalls den Gesamtumsatz nicht kennen.
Zwischen der Geldmenge und den Preisen besteht also überhaupt kein direkter Zusammenhang.“ [117]
Wenn also die Freigeldtheorie, z.B. die Inflation, allein durch eine unangepasste Geldmengenerhöhung erklärt, lässt sie güterwirtschaftliche und verhaltensbedingte Inflationsbegründungen völlig unberücksichtigt. [118] Die Beispiele der eher politisch begründeten Ölpreisschocks, die 1973 und 1980 regelmäßig hohe Inflationsraten nach sich zogen, belegen, dass sich aus einer alleinigen Gültigkeit der Quantitätstheorie in konkreten Fällen erhebliche Erklärungsschwierigkeiten ergeben können.
Die aus der Arbeitswertlehre entwickelte Zinstheorie steht in der wissenschaftlichen Literatur nicht alleine da. Die „Abstinenztheorie“ von N. W. Senior, nach der Zins die Belohnung für aufgeschobenen Konsum ist, die „Produktivitätstheorie des Zinses“, die den Zins als funktionales Einkommen des Kapitals als eigenständiger Produktionsfaktor sieht, die „Arbeitstheorie des Zinses“ mit dem Zins als Arbeitsentgelt des Kapitalbesitzers für die Bildung und Verwaltung des Kapitals und die „Agiotheorie des Zinses“ als Differenz zwischen gegenwärtigen und zukünftigen Gütern die in Verbindung mit der „Nutzentheorie“ zur „Grenzproduktivitätstheorie“ wird, sind einige realwirtschaftliche Zinstheorien, die ebenfalls einen Anteil zur Zinserklärung beanspruchen können. Ebenso wie die „Monetäre Zinstheorie“ von Keynes, die der Geldmenge die Liquiditätspräferenz beistellt, oder die „Kreditmarkttheorie des Zinses“ als Preis aus dem Verhältnis von Kreditangebot und Kreditnachfrage nach Ohlin und Robertson. [119]
Eine differenziertere Betrachtung der Zinsen würde daher der Freigeldtheorie gut tun.
Auch der monokausalen Erklärung von Konjunktur und Krise ist entgegenzuhalten, dass eine Vielzahl von andersgearteten Erklärungsansätzen denkbar sind. So kann das Zusammenspiel von Investitionsvolumen und Konsum auch von Stimmungen und Erwartungshaltungen beeinflusst werden, die über Multiplikator- und Akzeleratorwirkungen gesamtwirtschaftlich selbstverstärkend wirken, sich überhitzen und durch exogene Anlässe, z.B. ein Krieg oder ein Bankenskandal im Ausland zum unvermittelten Umschlagen der Stimmung führen. Ebenso haben Innovationen oder der Ausbildungsstand Einfluss auf die Entwicklung der Konjunktur.
Strukturelle Krisen, die im Gegensatz zu konjunkturellen Krisen nicht durch eine periodische Wellenbewegung gekennzeichnet sind, sondern eher durch Langzeitprobleme, wie die anhaltende hohe Arbeitslosigkeit, können mit der freigeldtheoretischen Konjunkturerklärung noch unbefriedigender erfasst werden. [120]
Der Wachstumszwang des kapitalistischen Systems, in der Freigeldtheorie Ursache der zunehmenden ökologischen Zerstörung, wird ebenfalls nicht zwingend durch den Zins allein vermittelt. Es kommen daneben auch das Wachsen der Bevölkerung oder das Interesse des Unternehmers an steigenden Gewinnen sowie die Verbesserung des allgemeinen Lebensstandards als Erklärungen für den Druck zu einer dynamischen Wirtschaft in Frage.
Zur Überwälzung der Fremdkapitalzinsen auf die Preise und der daraus entstehenden ungleichen Verteilung, ist die Überlegung beizufügen, dass fremdfinanzierte Kapitalgüter in der Regel Arbeit substituieren. Dem steigenden Zinsanteil in der Preiskalkulation steht also ein niedrigerer Arbeitskostenanteil gegenüber, zuzüglich einer eventuell gestiegenen Produktivität.
Grundsätzlicher bemerkt Popescu zu Gesells Freigeldtheorie: „Gesells Theorie, deren Eckstein der schwierigste Fragenkreis der Zinslehre ist, vermag wegen ihres unzulänglichen theoretischen Unterbaus der Kritik nicht standzuhalten.“ [121]
Keynes, der Gesell und die Idee des Freigeldes an mehreren Stellen lobend erwähnt, wirft ihm konkret vor, dass er nur eine halbe Theorie des Zinsfußes aufbaut und schließt daraus: „Die Unvollständigkeit seiner Theorie ist zweifellos die Erklärung, warum sein Werk von der akademischen Welt vernachlässigt worden ist.“ [122]
9.0. Fazit
Ist nun die Freigeldtheorie eine Utopie oder ein mögliches Instrument zukünftiger Wirtschaftspolitik?
Für Gesell und seine selbsternannten Nachfolger ist sie Teil einer neuen Wirtschaftsordnung, die zwangsläufig das kapitalistische Prinzip aus der grundsätzlich beibehaltenen Marktwirtschaft entfernt und damit die Gesellschaft, vor den prophezeiten Verheerungen bewahrt.
In der Unabweisbarkeit eines Heilsversprechens kann die Freigeldtheorie allerdings nicht gesehen werden.
Der monokausale Erklärungsansatz und die vielen unbewiesenen Grundannahmen machen sie mindestens ebenso kritikwürdig, aber durchaus auch kritikfähig, wie die meisten anderen wirtschaftswissenschaftlichen Theorien.
Nach Keynes Ansicht ist jedoch der Grundgedanke hinter dem Schwund des Geldes gesund. [123]
Dem können wir uns durchaus anschließen. Schon der Blick auf die angerissene Diskussion um die „Nullschranke“ der Nominalzinsen zeigt, dass die Freigeldtheorie in der Lage ist, einen bisher ungewöhnlichen Gedanken vorzubringen der, nach genauerer wissenschaftlicher Überprüfung, tatsächlich eine weitere Handlungsoption anbieten könnte.
Sämtliche Grundideen zum Freigeld sind bereits Gesells Werk zu entnehmen. Leider zeichnet sich die aktuelle Diskussion über das Freigeld, an der sich im Moment nicht viele Fachleute beteiligen, eher durch polemische Halbwahrheiten mit unerklärten Ereignisverkettungen und unbewiesenen Behauptungen aus, als durch seriöse wissenschaftliche Theorienprüfung.
Das ist bedauerlich, zumal gerade Keynes viele freigeldtheoretische Überlegungen aufzunehmen scheint, um sie durch entsprechende Ergänzungen und Relativierungen in seine Theorie einzubauen.
Eine tiefergehende Erörterung der Weiterentwicklung gesellscher Ideen in der „Allgemeinen Theorie“ von Keynes durch eine weiterführende Bearbeitung wäre ebenso wünschenswert, wie die Durchführung eines Feldexperimentes mit einem komplementären Schwundgeld.
Nach dem „Greshamschen Gesetz“ verdrängt, bei gleichzeitigem Angebot, für die Wertaufbewahrung „schlechtes“ Geld, das zur eigenen Schatzbildung gut Geeignete. Das wertstabile Geld verschwindet in der privaten Hortung und das Schwundgeld wäre von selbst das bevorzugte Tauschmittel. [124]
Mit einer empirischen Überprüfung dieses Gesetzes, sowie der Beobachtung der Wirkungen unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten und der zu empfehlenden theoretischen Auseinandersetzung mit Gesell und Keynes mag es durchaus gelingen, die Freigeldtheorie in den Kanon wirtschaftspolitischer Handlungsalternativen einzubinden.
Literaturverzeichnis:
- Aristoteles, „Politik“, Rowohlt Verlag, Hamburg, 1994
- Aristoteles, Nikomachische Ethik, entnommen aus: Ziegler, Bernd: „Geschichte des ökonomischen Denkens“
- Creutz, Helmut: „Das Geldsyndrom“, Ullstein Verlag, 4. Aufl., Berlin, 1997
- Gesell, Silvio, „Die natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“, Logos Verlag, Lüdenscheid, 1950
- Gesell, „Die Natürliche Wirtschaftsordnung“, in: Gesammelte Werke Band 11, Lütjenburg 1991; auf der Website https://www.silvio-gesell.de/gesammelte-werke.html
- Kennedy, Margit: „Geld ohne Zinsen und Inflation“, Goldmann Verlag, München, 1990
- Keynes, John M., “Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes”, Duncker & Humblot, 9. Aufl., Berlin, 2002
- Marx, Karl, „Das Kapital“, Dietz Verlag, 9. Aufl., Berlin, 1960
- Niederegger, Gerhard: „Das Freigeld – Syndrom“, Verlag für Ethik und Gesellschaft, Wien, 1997
- Senf, Bernd: „Der Nebel um das Geld“, Gauke, Lütjenburg, 1996
- Suhr, Dieter: „Geld ohne Mehrwert“, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt a.M., 1983. Download: http://www.dieter-suhr.info/files/luxe/Downloads/Suhr_Geld%20ohne%20Mehrwert.pdf
- Ziegler, Bernd: „Geschichte des ökonomischen Denkens“, Oldenbourg Verl., München, 1998
Monografien, Zeitschriften, u.ä.:
- Böhler, Eugen: „Freigeld – Ein Weg aus der Krise?“, Aargauer Tagblatt, Aarau, 1933
- Ehrenteich, Norman: „Geldpolitik angesichts der Nullschranke der Nominalzinsen: Ein Überblick“, Zeitschrift für Sozialökonomie, Gauke Verlag, Lütjenburg, 3/2003
- Krugman, P.: „Deflationary Spirals”, 1999, auf: www.mit.edu
- Marienfeld, K.: „Die dosierte Inflation“, ohne Ort und Jahr
- Popescu, Oreste in „Handbuch der Sozialwissenschaften“, Fischer Verlag, Band 4, Stuttgart, 1965
- Schneeganz, Tobias: Diss. „Umlaufgesicherte Komplementärwährungen“, Zeuthen, 2003.
Statistische Sammlung:
- EZB – Monatsbericht, März 2004, statistischer Teil, auf: www.bundesbank.de
Andere Medien:
- Rapp, Anselm über S. Gesell auf: www.anjora.de
- Risse, Stefan: „Telebörse“, ntv, 2004
Anmerkungen zu 5.0 bis 9.0
[63] Vgl. Suhr, Dieter: „Geld ohne Mehrwert“, Fritz Knapp Verlag, Frankfurt a.M., 1983, Kap. 2; entnommen aus: http://userpage.fu-berlin/~roehrigw/suhr/geld_ohne_mehrwert/kapitel2.htm, 17.03.04, 14:50
[64] Vgl. ebd.
[65] Gesell in Suhr, (1983), Kap. 2
[66] Vgl. Suhr, (1983), Kap. 2
[67] Vgl. Keynes, (2002), Kap. 13, S. 140 - 141
[68] Vgl. Suhr, (1983), Kap. 2
[69] Vgl. Gesell, (1950), Teil. 2, S. 110 - 113
[70] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 5, S. 81 - 82
[71] Vgl. Keynes, (2002), Kap. 11, S. 118
[72] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 5, S. 85
[73] Vgl. ebd., Kap. 5, S. 88
[74] Vgl. Ehrenteich, 2003, FN: 1
[75] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 5, S. 89 - 90
[76] Vgl. Kennedy, (1994), Kap 1, S. 22 - 24
[77] Vgl. Senf, (1996), Kap. 7.4., S. 88
[78] Vgl. Kennedy, (1994), Kap. 1, S. 24 – 25
[79] Vgl. Keynes, (2002), Kap. 24, S. 316
[80] Vgl. Gesell, (1950), Teil 3, S. 122 - 127
[81] Vgl. Senf, (1996), Kap. 7.5.3., S. 96
[82] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 17, S. 244 + Niederegger, (1997), Kap. 5, S. 59
[83] Vgl. Gesell, (1950), Teil 2, S. 92 - 93
[84] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 9, S. 136 - 138
[85] Vgl. EZB – Monatsbericht, März 2004, statistischer Teil.
[86] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 8, S. 134 - 135
[87] Vgl. Senf, (1996), Kap. 3.4., S. 38 - 39
[88] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 9, S. 138 - 140
[89] Vgl. Gesell, (1950)), Teil 2, S. 82 - 83
[90] Vgl. Gesell, ebd., S. 93
[91] Vgl. Gesell, ebd., S. 99
[92] Vgl. Gesell, „Die Natürliche Wirtschaftsordnung“, Rudolf Zitzmann Verlag, Lauf bei Nürnberg, 9. Auflage, 1949, Kap. 4.7.1.1., in: Gesammelte Werke Band 11, Lütjenburg 1991; auf der Website https://www.silvio-gesell.de/gesammelte-werke.html
[93] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 27, S 362 - 363
[94] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 27, S. 367 - 368
[95] Vgl. ebd., S. 365 - 366
[96] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 28, S. 371 - 375
[97] Vgl. Kennedy, (1994), Kap. 2, S. 45 - 48
[98] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 31, S. 421
[99] Vgl. Creutz, (1997), Kap. 33, S. 440
[100] Vgl. Keynes, (2002), Kap. 17, S. 192
[101] Vgl. Suhr, (1983), Kap. 2
[102] Vgl. Gesell, (1950), Teil 2, S. 99 - 102
[103] Vg. Creutz, (1997), Kap. 25, S. 334 - 336
[104] Vgl. Keynes, (2002), Kap. 22, S. 267 - 268
[105] Vgl. Gesell, (1950), Teil 2, S. 100
[106] Vgl. Gesell, (1950), Teil 1, S. 69 - 70
[107] Vgl. Gesell, (1950), Teil 1, S. 68 - 69
[108] Vgl. Gesell, (1950), Teil 2, S. 102 - 103
[109] Vgl. Senf, (1996), Kap. 6, S. 72
[110] Vgl. Senf, (1996), Kap. 6, S. 72 - 74
[111] Vgl. Marienfeld, K.: „Die dosierte Inflation“, Http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/fragen-der-freiheit/heft234/48-58.htm, 26.02.04, 21:25
[112] Vgl. Ehrenteich, (2003), S. 19
[113] Vgl. ebd., S. 20
[114] Vgl. Krugman, P.: „Deflationary Spirals”, 1999.
[115] Vgl. Ehrenteich, (2003), S. 21 - 22
[116] Vgl. Ehrenteich, (2003), S. 24
[117] Vgl. Böhler, Eugen: „Freigeld – Ein Weg aus der Krise?“, Aarauer Tagesblatt, Aarau, 1933, S. 20 + 23
[118] Vgl. Niederegger, (1997), Kap. 2, S. 30 - 31
[119] Vgl. Niederegger, (1997), Kap. 2, S. 35 - 38
[120] Vgl. Niederegger, (1997), Kap. 2, S. 46 - 47
[121] Vgl. Popescu, Oreste in „Handbuch der Sozialwissenschaften“, Band 4, Stuttgart, Tübingen, Göttingen, 1965, S. 426 - 427
[122] Vgl. Keynes, (2002), Kap. 23, S. 301
[123] Vgl. Keynes, (2002), Kap. 23, S. 302
[124] Vgl. Suhr, (1983), Kap. 2