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Niko Paech:
„Replik auf Vorwürfe gegen das Archiv der Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung“

Übersicht
Das Archiv und Silvio Gesell
Sozialdarwinismus und antisemitische Stereotype
Ad 1. Zwischen Gesinnung und wissenschaftlichem Gehalt
Ad 2. Wann ist jemand Sozialdarwinist und/oder Antisemit?
Freiwirtschaftslehre in der NSDAP
Die „Kontaktschuld“-Strategie
Die aktuelle Relevanz der Geld- und Bodenreformbewegung
Die Geld- und Bodenreformbewegung aus Sicht der Nachhaltigkeitsforschung
Fazit
Anmerkungen

Die folgenden Ausführungen resultieren aus einer Kontroverse, die sich zu Beginn des Jahres 2007 ereignete, als das Archiv für Geld- und Bodenreform in die Bibliothek der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg eingegliedert wurde. Der Autor des vorliegenden Textes hatte darauf hin angeregt, dass sich das an der Universität ansässige wirtschafts- und sozialwissenschaftliche Nachhaltigkeitszentrum CENTOS (Oldenburg Center for Sustainability and Economics) als Mitveranstalter an einem Archivauftakt beteiligen solle, dessen Programm u.a. einen Workshop zur Thematik und dessen Bedeutung für die Nachhaltigkeitsforschung vorsah. Der CENTOS-Vorstand lehnte den Vorschlag ab, signalisierte gleichwohl, sich ggf. bei späterer Gelegenheit dieses Themas annehmen zu wollen, wenn ein neutralerer Rahmen und die Möglichkeit einer kontroversen Diskussion gegeben seien. Grundlage dieser Entscheidung war eine zuvor an den Vorstand adressierte Stellungnahme, die ein breites Spektrum an Vorbehalten gegen die Geld- und Bodenreformbewegung im Allgemeinen und die Stiftung im Speziellen enthält. Nachstehend findet sich eine leicht überarbeitete Replik darauf, die der Autor – er amtierte zur fraglichen Zeit als Vorstandssprecher von CENTOS – dem Vorstand vor dessen Entscheidung zur Kenntnis gab.

Die in der Stellungnahme hauptsächlich vorgebrachte Kritik verortet sich im Fahrwasser einer Debatte, die u.a. von Peter Bierl, dem Redakteur der Zeitschrift „Ökolinx“, und von Jutta Ditfurth, insbesondere durch deren Publikation „Entspannt in die Barbarei“ (1996)[1] ausgelöst und mit Vehemenz betrieben wurde. Die in Ditfurths Buch enthaltenen Anfeindungen gegen Silvio Gesell und die von ihm begründete „Freiwirtschaftlehre“ haben in den vergangenen 10 Jahren ein umfangreiches Echo ausgelöst. Insbesondere jene, welche die Überlegungen Gesells zur Rolle von Geld, Zins und Boden kritisch weiterführten, haben sich mit diesen Vorwürfen ausführlich auseinandergesetzt. Einige der Gegendarstellungen können praktisch nicht übersehen werden, wenn zu dieser Kontroverse recherchiert wird.[2] Leider fehlt in der Stellungnahme jeglicher Hinweis darauf. Stattdessen werden mehr oder weniger einseitig die Auslassungen der Ditfurthschen Streitschrift wiedergegeben.[3] Darüber hinaus tauchen Darstellungen auf, die ungenau, falsch oder Ausfluss einer verzerrten Interpretation bzw. Kontextualisierung sind. Insoweit es sich dabei um bekannte Klischees handelt, soll darauf in verallgemeinerter Form eingegangen.

Das Archiv und Silvio Gesell

Unter Verweis auf die Quelle http://www.stiftung-geld-boden.de/ wird in der Stellungnahme behauptet, dass die Ziele der Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung im Wesentlichen auf den Schriften Silvio Gesells beruhen würden. Wer jedoch die angegebene Internetseite öffnet, findet folgenden Text: „Die Tätigkeit der Stiftung fußt auf den Werken bedeutender Sozialreformer des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die die Fehlstrukturen kapitalistischer Marktwirtschaften auf freiheitliche Weise überwinden und eine Marktwirtschaft ohne Kapitalismus gedanklich vorbereiten wollten: Pierre Joseph Proudhon, Henry George, Michael Flürscheim, Adolf Damaschke, Franz Oppenheimer und besonders Silvio Gesell, dessen Reformvorschläge die Wertschätzung bedeutender Ökonomen wie Irving Fisher und John Maynard Keynes erfahren haben. Nachdem diese Denkansätze lange Zeit wenig Beachtung fanden, wurden sie von Karl Walker, Dieter Suhr und anderen aufgegriffen, weiterentwickelt und aktualisiert. Angesichts sich verschärfender sozialer und ökologischer Probleme hat es sich die Stiftung zur Aufgabe gemacht, die Gründe für die wachsende Kluft zwischen Reich und Arm, die anhaltende Massenarbeitslosigkeit und die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen zu erforschen und Wege zu suchen, auf denen Erde und Menschen wieder eine Zukunft haben. Anknüpfend an die Ideen der genannten Sozialreformer hält es die Stiftung vor allem für erforderlich, die Gemeinschaftsgüter Geld und Boden in eine Verfassung zu bringen, in der sie allen Menschen dienen und in der ihre individuelle Nutzung nur noch im Rahmen des Gemeinwohls möglich ist.“

Des weiteren lautet § 2 der Stiftungssatzung: "Die Stiftung fördert die Wissenschaft auf dem Gebiet der Wirtschafts- und Sozialpolitik, insbesondere in bezug auf das überkommene Geldwesen und ein modernes Bodenrecht. Sie verbreitet die Ergebnisse ihrer Forschung durch Wort und Schrift. Sie unterstützt gleichgerichtete, als gemeinnützig anerkannte Einrichtungen."

Sozialdarwinismus und antisemitische Stereotype

Ganz im Sinne der Bierl-Ditfurth-Kampagne wird in der Stellungnahme die vermeintlich sozialdarwinistische und antisemitische Gesinnung bzw. Nähe von Gesell und späteren Befürwortern der Geld- und Bodenreform betont. Um diese „Standard“-Kritik zu systematisieren, bietet sich deren Unterteilung in zwei Fragenkomplexe an:

1. Wenn in Gesells Schriften tatsächlich eine sozialdarwinistische Gesinnung sowie antisemitische Tendenzen nachweisbar wären, dürften Wissenschaftler dann trotzdem Theoriebestandteile aufgreifen, deren Urheber zwar Gesell ist, die aber per se in keinem logischen Zusammenhang mit sozialdarwinistischem oder antisemitischem Gedankengut stehen?

2. Wie zutreffend ist überhaupt der Vorwurf, Gesell sei Sozialdarwinist und Antisemit gewesen bzw. bediene antisemitische Stereotypen?

Ad 1. Zwischen Gesinnung und wissenschaftlichem Gehalt

Eine Gesinnungsprüfung jener Wissenschaftler, Theoretiker, Erfinder oder Autoren, die Ideen mit nach wie vor hoher Relevanz entwickelt haben, deren Schaffen aber ganz oder teilweise einer Epoche entstammt, die von Sozialdarwinismus, Faschismus oder Antisemitismus geprägt war, wirft pikante Fragen auf, wenn nach der Logik des obigen Vorwurfs verfahren wird. Der Volkswagen, die gesetzliche Verankerung des Naturschutzes, Autobahnen, der Raketenantrieb – um nur wenige Bespiele zu nennen – wurden bekanntlich von Nationalsozialisten entwickelt. Werden derlei Betrachtungen auf das Segment der Wirtschaftswissenschaften gerichtet, so treten noch niederschmetterndere Befunde zu Tage.[4] Nicht nur dass z.B. Schumpeter bekanntlich vor seiner Abreise in die USA unverhohlen seine Sympathie für Hitler und dessen Politik bekundete; in der berühmten Schumpeter-Biographie von Swedberg [5] findet sich überdies Folgendes: „Judging by Schumpeter's notations in this private diary he was quite out of balance in 1945 when Hitler was finally defeated. He thought that the British and the Jews had won the war with the help of the United States. The whole thing was a Jewish victory and the Americans had accomplished what Hitler had originally set out to do: ‘to conquer the world’” (S. 150). Ist es nun verwerflich, die von Schumpeter begründete Innovationsforschung oder seine weithin für bahnbrechend gehaltenen Werke zu rezipieren?

Darf Studenten in einer Vorlesung zur Preis- oder Oligopoltheorie die sog. „Stackelberg-Lösung“ vermittelt werden, wo doch inzwischen bekannt ist, dass Heinrich von Stackelberg nicht nur glühender Hitler-Verehrer war, sondern seine Wissenschaftlertätigkeit beendete, um aktives Mitglied der Waffen-SS zu werden? Wie viele wegweisende Arbeiten zur Oligopoltheorie, Industrieökonomik, Spieltheorie etc. sind seither erschienen, die auf Stackelbergs Modell beruhen? Wie ist mit den Standardwerken zur Mikroökonomik von Wilhelm Krelle umzugehen, dessen Nazi-Vergangenheit erst in den Neunziger Jahren spektakulär aufgedeckt wurde? Sind die Krelleschen „Wetterkarten“ (Spitzname für die graphische Darstellung des von Krelle entwickelten Oligopolmodells) faschistisch?

Die Grundideen zur Zins-, Geld- und Bodenreform von Gesell sind ebenso wenig faschistisch wie die Schumpetersche Innovationsforschung, das Design des VW-Käfers oder der von Hermann Göring aufgegriffene Naturschutzgedanke. Sich dieser Ideen anzunehmen, bedeutet nicht, die politische oder weltanschauliche Position ihrer Schöpfer zu übernehmen. Andernfalls stünden sogar die maßgeblichen Exponenten der Kampagne gegen Gesell und die Geld- und Bodenreformbewegung, nämlich die bekennenden Marxisten Bierl und Ditfurth vor einem Problem. In seiner berüchtigten Schrift „Zur Judenfrage“ (1843) fragt Marx, „Welches ist der weltliche Kultus des Juden?", um darauf zu antworten: "Der Schacher. Welches ist sein weltlicher Gott? Das Geld [...] Welches ist der weltliche Grund des Judentums? Das praktische Bedürfnis, der Eigennutz [...] Der Wechsel ist der wirkliche Gott des Juden. Sein Gott ist nur der illusorische Wechsel. [...] Die gesellschaftliche Emanzipation des Juden ist die Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum." [6] War Marx also Antisemit? [7] Und falls ja, gilt das dann auch automatisch für die Anhänger seiner Lehre?

Ad 2. Wann ist jemand Sozialdarwinist und/oder Antisemit?

Dass Gesell eine aus heutiger Sicht derbe und dem Darwinismus nahe Sprache bemühte, steht außer Frage. Aber eine Bewertung dieses Fakts ist nur unter Berücksichtigung des kulturellen und historischen Kontextes möglich. Bezogen auf die darwinistische Komponente sollte nicht übersehen werden, dass der Darwinismus zu Gesells Zeit die theoretische und rhetorische Plattform darstellte, von der die intellektuelle Emanzipation gegenüber Kirche und Monarchie abhob. Dies galt speziell für die Milieus der Arbeiterbewegung und für viele Theoretiker, die sich der sozialen Frage annahmen. Gerade die Arbeiterbewegung wollte Gesell erreichen.

Aber wann wird aus Darwinismus „Sozialdarwinismus“? Etwa bereits dann, wenn darwinistische Logiken auf soziale, d.h. von Menschen geschaffene Systeme angewandt werden? In diesem Fall wäre z.B. die evolutorische Ökonomik sozialdarwinistisch. Oder kann von Sozialdarwinismus die Rede sein, wenn Selektionsmechanismen, die auf kultureller, technischer oder sonstiger Überlegenheit basieren, beschrieben werden, um Konkurrenzvorteile von Unternehmen oder ganzer Ökonomien zu erklären? Dann hätte so manche wettbewerbstheoretische und kulturwissenschaftliche Analyse des marktwirtschaftlichen Geschehens – ein in der Tat hochgradig auf Rivalität und ökonomischem Überlebenskampf gründender Prozess – ein ernstes Problem.

Es herrscht weitgehende Einigkeit darüber, dass das Verwerfliche des Sozialdarwinismus in der Gleichsetzung eines biologischen Ist-Zustandes mit einem moralischen Soll-Zustand besteht. Aber Gesell wollte als Sozialreformer gerade weder den Ist-Zustand der Einkommensverteilung und individueller Daseinsbedingungen, noch den dafür ursächlichen ökonomischen Mechanismus – alles Resultate, die sich aus sozialdarwinistischer Perspektive als unabänderliche Fakten einer „natürlichen“ Entwicklung hätten rechtfertigen lassen – akzeptieren, sondern eines Mangels entledigen, den er im Zins- und Geldsystem sowie im Eigentumsregime für die Ressource Boden sah. Die Schaffung einer neuen, nämlich nahezu zinslosen Währung sowie der Übergang vom Eigentum zur Pacht von Boden befinden sich schon deshalb im Gegensatz zum Sozialdarwinismus, weil letzterer Interventionen zwecks wie auch immer definierter Verbesserungen sozialer Verhältnisse strikt ablehnt.

Im Übrigen sei vermerkt, dass sich die Stiftung sehr kritisch mit jenen „Angriffsflächen“ Gesells auseinandersetzt, die – insbesondere wenn sie aus dem Zusammenhang gerissen und entsprechend (um-) interpretiert werden – Anlass zu einer sozialdarwinistischen Deutung geben könnten. [8] Aber auch zu diesem Zweck ist das weltweit wohl einzigartige Archiv der Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung essentiell und bietet die Chance eines dogmenhistorischen Einblicks in eine Epoche, die nicht nur aus wirtschaftswissenschaftlicher, sondern auch historischer Sicht einer Aufarbeitung bedarf. Weiterhin vertritt die Stiftung nicht irgendein (etwa von Gesell geprägtes) Weltbild, sondern will die Diskussion vorliegender Reformideen zum Geld, Zins und Boden befördern.

Der ebenfalls geäußerte Vorwurf, Gesell bediene sich antisemitischer Stereotypen [9], wirft angesichts des historischen Kontextes ein weiteres interessantes Problem auf. Angenommen, jemand möchte sich inmitten eines von antisemitischen Stereotypen durchdrungenen Diskurses zu den damit verbundenen Fragestellungen äußern, eventuell sogar, um gegen Rassenhetze oder Antisemitismus zu argumentieren. Wie könnte er sich artikulieren, ohne das zeitgenössische, in der Tat von antisemitischen Stereotypen dominierte Vokabular zu verwenden? Die sog. „Judenfrage“, so grässlich allein der Begriff nebst damit assoziierter Logik aus heutiger Zeit auch anmuten mag, hat nicht Gesell in die Welt gebracht, sondern wurde damit unweigerlich konfrontiert. Abgesehen davon, dass zeitgenössische Autoren, die wie Gesell einen bestimmten Aspekt der gesellschaftlichen Entwicklung bearbeiteten, nur wenig Chancen hatten, dieses Thema umgehen zu können, stellt sich mithin die Frage, wie dessen Ignorieren – wohlgemerkt bezogen auf den damaligen kultur-historischen Kontext – überhaupt der Intention hätte nützen können, sich gegen Antisemitismus zu verwahren. Entscheidend für eine Bewertung ist deshalb nur, was nun Gesell tatsächlich hierzu geäußert hat.

Aus diesem Grund sei hier in Gänze eine Textstelle wiedergegeben, die in der Stellungnahme leider nur unvollständig zitiert wird: "Bei dem heutigen Geldwesen hat der Geldinhaber dem Wareninhaber, d.h. dem Producenten, gegenüber große Vorrechte und wenn er aus diesen Vorrechten Nutzen zu ziehen sucht, so thut er nicht mehr, als jeder andere an seiner Stelle auch thun würde. Die Juden beschäftigen sich nun mit Vorliebe mit Geldgeschäften und es ist klar, dass diese Vorrechte des Geldinhabers darum auch vorzugsweise den Juden zu Gute kommen. Hat aber darum Herr Stöcker [der damalige Hofprediger Kaiser Wilhelms II] ein Recht, die Juden zu verfolgen? Ist nicht das Geld eine öffentliche Einrichtung, kann nicht Jeder, wenn er dazu befähigt ist, den Juden Concurrenz machen, hat nicht schon Jeder, selbst Herr Stöcker, den geheimen Wunsch gehegt, selber Bankier zu sein? Die Judenhetzerei ist eine colossale Ungerechtigkeit und eine Folge einer ungerechten Einrichtung, eine Folge des heutigen Münzwesens. Wo Aas ist, da versammeln sich die Adler; will man die Adler vertreiben, so braucht man die Lockspeisen nur fortzuschaffen und die Adler werden von selbst verschwinden, ohne dass es nöthig sein wird, auch nur einen einzigen zu thödten. Die Münzreform macht es unmöglich, dass jemand erntet ohne zu säen, und die Juden werden durch dieselbe gezwungen werden, die Verwerthung ihrer grossen geistigen Fähigkeiten nicht mehr im unfruchtbaren Schacher zu suchen, sondern in der Wissenschaft, Kunst und ehrlichen Industrie. Die Münzreform schützt die Juden nicht allein vor jeder weiteren Verfolgung, sondern sie sichert auch der deutschen Wissenschaft und Gesetzgebung die Mitwirkung des jüdischen Scharfsinnes [Hervorhebung NP]." [10]

In der Tat tritt hier ein an antisemitischen Stereotypen angelehnter Duktus zu Tage, aber eben nicht, um Antisemitismus zu rechtfertigen, sondern diesem ein der Freiwirtschaftslehre entstammendes Argument entgegen zu setzen – und das inmitten eines Zeitgeistes, der es jenen, die sich gegen Antisemitismus wandten, wahrlich nicht leicht machte. Die Verwendung von Stereotypen der Variante "raffender Jude" oder "Verschwörung der Juden" ist ein entscheidendes Merkmal des Antisemitismus. Genau diesem tritt Gesell entgegen, wenn er klargestellt, dass „die Juden“ sich lediglich Zwängen eines abschaffungswürdigen Systems beugten, also eben nicht selbst die Ursache für die Verwerfungen eines als ungerecht empfundenen Kapitalismus darstellen.

Wo der Vorwurf des Antisemitismus erhoben wird, ist der des Rassismus meistens nicht weit, zumal sich ersterer als spezielle Form des Letzteren auffassen lässt. Hierzu nochmals Gesell [11]: „Der Erde, der Erdkugel gegenüber sollen alle Menschen gleichberechtigt sein, und unter Menschen verstehen wir ausnahmslos alle Menschen – ohne Unterschied der Rasse, der Religion, der Bildung und körperlichen Verfassung. Jeder soll dorthin ziehen können, wohin ihn sein Wille, sein Herz oder seine Gesundheit treibt. Und dort soll er den Altangesessenen gegenüber die gleichen Rechte auf den Boden haben. Kein Einzelmensch, kein Staat, keine Gesellschaft soll das geringste Vorrecht haben. Wir alle sind Altangesessene dieser Erde."

Zu dem ebenfalls geäußerten Vorwurf, Gesell habe in der „völkisch-rassistischen“ Lebensgemeinschaft Oranienburg-Eden seinen Lebensabend verbracht, bietet sich folgende Klarstellung von Onken [12] an: „Die Eden-Genossenschaft gab es seit 1893 als ein bodenreformerisches Siedlungsprojekt, das aus der damaligen Lebensreformbewegung hervorging. An der Formulierung der Gründungsdokumente war der jüdische Arzt und spätere Soziologe Franz Oppenheimer beteiligt, der auch einen maßgeblichen Einfluss auf die zionistische Siedlungsbewegung in Palästina entfaltete. Gemeinsame Ziele der Edener Siedler waren die private Nutzung des genossenschaftlichen Bodeneigentums sowie die genossenschaftliche Produktion und Verarbeitung von naturgemäß angebautem Obst und Gemüse (Eden-Säfte usw.). Gemäß ihrer Satzung war die Genossenschaft offen für Menschen aus unterschiedlichen religiösen und politischen Richtungen. Dementsprechend breit war das politische Spektrum der Siedler von ganz links bis ganz rechts. Ein völkischer Antisemit war Gustav Simons, der das bekannte Simons-Lieken-Brot entwickelt hat. Es trifft leider zu, dass es völkisch eingestellten Edenern unter den Eindrücken des ersten Weltkriegs 1917 gelang, “deutsches Ariertum” als Kriterium für die Aufnahme neuer Siedler in die Satzung aufzunehmen. Zu dieser Zeit hatte Gesell die Eden-Genossenschaft jedoch schon wieder verlassen. Nach dem ersten Weltkrieg wurde die Edener Satzung wieder geändert [Hervorhebung NP].“

Freiwirtschaftslehre in der NSDAP

Weiterhin wird in der Stellungnahme behauptet, der Nationalsozialist Feder habe Gesells Ideen aufgegriffen. Träfe dies tatsächlich zu, würde sich die Frage stellen, wie Gesell sich dagegen je hätte wehren können. Wie hat z.B. Edison, der Erfinder der Glühbirne, verhindern können, dass die Nazis, weil auch sie nicht im Dunkeln sitzen wollten, sich dieser Erfindung bedienten? Obendrein ist der behauptete Zusammenhang zum Nationalsozialismus falsch: „Im April 1919 – während der Zeit der Münchner Räterepublik – sind sich Gesell und der NS-Wirtschaftsprogrammatiker Gottfried Feder einmal zufällig in München begegnet. In einem kurzen Gespräch stellte sich heraus, dass die Denkweisen der beiden nicht zueinander passten. Gesell und Feder gingen auseinander, ohne jemals wieder in Verbindung zu treten. Die später durch Carl Amery verbreitete und in letzter Zeit von Robert Kurz wiederholte Behauptung, Gesell sei gleichsam der Ideenlieferant für Feders ‚Brechung der Zinsknechtschaft’ gewesen, entspricht nicht der Wahrheit. [13] Im Übrigen hat sich auch Feder in seinen Veröffentlichungen mehrfach ablehnend über Gesell geäußert.“ [14]

Im Übrigen entsprach die NS-Geldpolitik faktisch dem genauen Gegenteil der Freiwirtschaftslehre Gesells. Die in der Stellungnahme weiterhin suggerierte Kompatibilität des NS-Regimes mit Gesells Gedanken ist noch aus einem schwerwiegenderen Grund gelinde gesagt abstrus. Prägende Elemente der kapitalistischen Marktwirtschaft, aber auch die vor der Machtergreifung in diesem Kontext tätigen Unternehmen – sofern nicht im Krieg zerstört –, bildeten nicht nur die Basis der NS-Wirtschaft, sondern haben diese Epoche großenteils unbeschadet überstanden, um ihre Existenz in der Erhardtschen „sozialen Marktwirtschaft“ nahtlos fortzusetzen. Das gilt in besonderem Maße für die großen deutschen Banken, also den Exponenten jener Zinswirtschaft, die Gesell kritisierte.

Wer danach fragt, mit welchen wirtschaftspolitischen Konzeptionen oder Rahmenbedingungen das Nazi-Regime kompatibel war, stößt unmittelbar auf die Verstrickungen Erhards, der als Leiter des „Instituts für Industrieforschung“, das von der damaligen Reichsgruppe Industrie (entspricht dem heutigen BDI) finanziert wurde, in den vierziger Jahren mit Angehörigen des Reichwirtschaftsministeriums zusammenarbeitete, um Pläne eines adäquaten Wirtschaftssystems für die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg zu erarbeiten. Unter anderem daraus ergab sich für die NSDAP kurz vor Kriegsende eine wirtschaftspolitische Kontroverse, die zwischen Erhards Gedanken (die er dann nach dem Krieg verwirklichen konnte) und der von Speer praktizierten Wirtschaftslenkung, die selbst innerhalb der NSDAP zuweilen als zu „bolschewistisch“ kritisiert wurde, pendelte. Angesichts dieser Gemengelage und der ohnehin chaotischen nationalsozialistischen Wirtschaftspolitik wäre es verwegen, überhaupt ein bestimmtes, für faschistisches Gedankengut prädestiniertes Wirtschaftssystem ausmachen zu wollen. [15] Wenn nun wie in der Stellungnahme behauptet wird, die Lehre Gesells sei kompatibel zu rechtsradikalen Gesinnungen, ließe sich dies bestenfalls rechtfertigen, wenn hinzugefügt würde, dass dies für alle anderen bekannten, insbesondere die real umgesetzten Ökonomieentwürfe nicht minder gilt. Dass diese Ergänzung unterlassen wird, soll augenscheinlich suggerieren, dass speziell die Freiwirtschaftslehre einen Hang zur Rechtsradikalität offenbart.

Die schon des öfteren zu Diffamierungszwecken herangezogene Parallelität zwischen der nationalsozialistisch propagierten „Brechung der Zinsknechtschaft” und der Gesellschen Zinskritik impliziert im Übrigen bei konsequenter Auslegung ein Verdikt: Die Wirtschaftswissenschaften dürften sich demnach nicht mit den sozialen und ökologischen Folgen des Zinssystems beschäftigen, zumal Zinskritik nach dieser Logik per se faschistisch wäre. Aber was bliebe noch übrig, wenn alles, was sich in irgendeiner Form faschistisch und/oder antisemitisch instrumentalisieren ließe, mit einem Tabu belegt würde? Wie könnte dann verhindert werden, dass rechte Kräfte auch solche Diskurse und Areale besetzen, die per se gar keine rechte Affinität aufweisen und diese damit in moralisch verbrannten Boden für andere verwandeln? Was wäre beispielsweise geschehen, wenn es der NPD gelungen wäre, das Thema „Globalisierungskritik“ einfach nur früher als attac für sich zu reklamieren?

Die „Kontaktschuld“-Strategie

In der Stellungnahme wird hervorgehoben, dass sich Anhänger der Freiwirtschaftslehre nach dem Krieg in der FSU (Freisoziale Union) organisiert hätten. Diese wiederum habe enge Kontakte zur rechtsradikalen, seinerzeit vom ehemaligen NSDAP-Mitglied Otto Strasser gegründeten DSU (Deutsch-Soziale Union) gepflegt. Bevor hieraus Schlussfolgerungen gezogen werden können, ergibt sich allerdings folgender Klärungsbedarf: Wer und wie viele waren diese „Anhänger“? Wie kann ausgerechnet diesem Personenkreis implizit eine (Allein-) Vertretungshoheit in Sachen Freiwirtschaftslehre zugeschrieben werden? Anscheinend soll hier abermals die Assoziation geweckt werden, Befürworter der Freiwirtschaftslehre seien systematisch in rechtsradikalen Gefilden anzutreffen. Derlei Behauptungen folgen einer oft für Verleumdungszwecke instrumentalisierten „Kontaktschuld“-Strategie. Ihr Grundprinzip besteht in einer verworrenen Umkehrschlusslogik: Weil offensichtlich einige Anhänger der Freiwirtschaftslehre tatsächlich in rechtsradikalen Zirkeln verkehrten, muss umgekehrt – so will es diese Logik – die Freiwirtschaftslehre insgesamt, insbesondere auch deren sonstige Anhängerschaft rechtsradikal sein. Die Schlichtheit dieser Kausalität offenbart sich schon in den amüsanten Widersprüchen, die sie produziert: Wie viele Anhänger der NSDAP oder der heutigen NPD waren bzw. sind keine Anhänger der Freiwirtschaftslehre, sondern befürwor(te)ten – schon in Ermangelung der Kompetenz, überhaupt eine durchdachte Alternative zu entwickeln – weiterhin ein ggf. modifiziertes, aber ansonsten nicht hinterfragtes marktwirtschaftliches Allokationssystem, versehen mit der Institution des Eigentums? Vermutlich deren Mehrheit. Welches Wirtschaftssystem wäre demnach also faschistisch? Oder: Wie faschistisch ist attac, wo doch die NPD und andere rechtsradikale Gruppierungen seit einiger Zeit eine ähnlich lautende Globalisierungskritik zu einem ihrer Hauptthemen auserkoren haben?

Ein weiteres Paradebeispiel für die absonderliche Kontaktschuld-Logik und obendrein für eine gelinde gesagt zweifelhafte Recherchepraxis liefert der Fall des aus Japan stammenden Autors Yoshito Otani. Wo alle anderen Versuche, Gesell oder der Geld- und Bodenreform faschistoide Tendenzen unterzuschieben, nicht verfangen, wird als argumentative Trumpfkarte gern auf den „Auschwitz-Leugner“ und „knallharten Antisemiten“ [16] Otani verwiesen. Dieser war in der zweiten Hälfte der siebziger Jahre und Anfang der Achtziger Jahre durch einige Publikation in Erscheinung getreten, in denen eine den Grundideen Gesells entlehnte Geld- und Bodenreform gefordert wird, jedoch verkoppelt mit einem diffusen politischen Weltbild. Letzteres kulminiert stellenweise in seltsam anmutende Geschichtsinterpretationen hinsichtlich der Rolle Deutschlands und des Judentums während des zweiten Weltkriegs. Abgesehen davon, dass die Entgleisungen einer unautorisierten Einzelperson nicht repräsentativ für eine Bewegung oder Personengruppe sein können, sich zweitens die Anhänger der Geld- und Bodenbewegung nicht dagegen wehren können, dass irgendwer wirre Schriften verfasst, wirft dieser Fall einen dritten Fragenkomplex auf. Interessanterweise finden sich weder bei Ditfurth, noch bei Bierl originale Textstellen von Otani. Stattdessen wird eine Arbeit von Woelk [17] und insbesondere das bekannte Buch von Geden [18] über rechte Tendenzen in der Ökologiebewegung angeführt. Geden selbst verwendet jedoch nicht den Terminus Auschwitz-Leugnung, sondern spricht von Relativierung der Judenvernichtung. Worauf könnte diese nicht nur deutlich vorsichtigere, sondern an Auslegungsdürftigkeit (um nicht zu sagen: Schwammigkeit) kaum zu überbietende Umschreibung – die im Übrigen dafür sprechen dürfte, dass Geden durchaus um Sachlichkeit bemüht ist – zurückzuführen sein?

(1) Es bedarf schon einer gewissen Interpretationsleistung, um aus dem Wortlaut der betreffenden, anscheinend einzigen zu diesem Zweck tauglichen Textstelle zweifelsfrei eine Auschwitz-Leugnung zu extrahieren: „Man muss natürlich, ganz abgesehen von der Frage, ob es sich hier wirklich um sechs Millionen Opfer gehandelt hat oder um eine andere Zahl, ob es Gaskammern gab oder dieselben in Dachau erst nach dem Krieg aufgebaut wurden, sagen: Verbrechen ist Verbrechen. […] Das Menschenleben ist entweder bezahlbar oder unbezahlbar. Wenn es unbezahlbar ist, braucht man sich um diesen Punkt nicht kümmern. Aber wenn es bezahlbar ist, sollte man die bestimmte Summe bezahlen, die zwischen den Partnern ausgehandelt wurde – in bestimmten Zahlen und in einer bestimmten Zeit. Aber man sollte ja nicht versuchen, dazwischen Moral und Unmoral einzuschieben, um damit die Schuldenlast zu verewigen.“ [19] Dies ist starker Tobak, der jedoch gerade deshalb danach ruft, den Gesamtkontext offen zu legen, dem diese Stelle entnommen wurde. Ohne den Zusammenhang, den genaueren inhaltlichen Bezug oder bestimmte, möglicherweise gar nicht von Otani selbst formulierte, sondern aufgegriffene Fragestellungen oder Behauptungen, auf die sich diese Passage beziehen könnte, wäre eine Deutung voreilig.

(2) Der Verfasser dieser Replik hat sich bemüht, den fraglichen Otani-Aufsatz in Gänze zu sichten. Nach erfolglosen Versuchen, den Text ausfindig zu machen, entstand ein kurzer E-mail- und schließlich telefonischer Kontakt zu Geden. Dieser bestätigte, was schon aus der Quellenangabe in seinem Buch hervorgeht, nämlich dass auch ihm der betreffende Text selbst nie vorgelegen hat. Gestoßen sei er auf die Stelle in einem Aufsatz eines Kollegen, der wiederum das obskure Antifa-Heft zitiert hatte, das wiederum die als rechtsradikal bezeichnete Zeitschrift zitiert hat… Die Frage, wie viel originaler Gehalt am Ende einer derart langen „literarischen Prozesskette“ noch übrig bleibt, mag insofern spitzfindig erscheinen, als eine über viele Überlieferungen erfolgende Zurückverfolgung literarische Ursprünge, etwa in Geschichte und Philosophie, zuweilen keine andere Alternative zulässt und durchaus wissenschaftlicher Praxis entspricht. Aber dort, wo interessengeleitete oder politisch motivierte Deutungen so prägnant wie hier sind, gebietet es das Vorsichtsprinzip, derlei Fragen eben doch zu stellen: Wie verlässlich und hinreichend kontextualisiert ist die Textwiedergabe einer Antifa-Gruppe, die selbst bei den Grünen „rechtsextreme Tendenzen“ offen legen zu müssen glaubt? Wie kann überhaupt dem als rechtradikal bezeichneten Medium „Unabhängige Nachrichten“ unterstellt werden, einen Text von Otani korrekt wiederzugeben? Wie gelangte der Text an dieses Medium – vor allem in welcher Sprache? Wurde er übersetzt und falls ja, von wem? Welcher Sprache ist bzw. war der aus Japan stammende Otani eigentlich mächtig? Wenn er deutsch sprach, wie sicher war sein Deutsch im Hinblick auf die Vermeidung von Missverständnissen? Auf die letzten drei Fragen wusste zumindest Geden, der danach explizit gefragt wurde, keine Antwort.

(3) An anderer Stelle schreibt derselbe Otani, dem übrigens auch unterstellt wird, er würde die sog. „Protokolle der Weisen Zions“ für wahr halten, folgendes: „Die Bezeichnung ‚Protokolle der Weisen Zions’ weist natürlich in eine bestimmte Richtung, von der aber die Urheberschaft dieser Schrift aufs Schärfste zurückgewiesen wurde. Auch Henry Ford, dessen Buch aus dem Jahre 1921 ‚Der internationale Jude’ die angegebenen Zitate entnommen sind, vertritt darin einen völlig einseitigen rassistischen Standpunkt. Wie gesagt, lehne ich selbst es ganz entschieden ab, ein Volk oder eine Rasse mit der Verfolgung solcher Pläne zu verdächtigen. Gerade den Juden gegenüber wäre das die größte Verantwortungslosigkeit, nachdem solche Massenverdächtigungen unter ihnen schon so furchtbare Opfer gefordert haben." [20]

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Hier geht es auf keinen Fall um die Rehabilitierung des „Phantoms“ Otani, von dem heute niemand mehr zu wissen scheint, woher er kam und wohin er plötzlich verschwunden ist. Vielmehr lässt sich an diesem Beispiel die Kontaktschuld-Logik und die Frage nach gewissenhafter Recherche anschaulich thematisieren.

Im Übrigen sei darauf hingewiesen, dass sich die Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung offensiv mit der Aufarbeitung aller tatsächlichen und behaupteten Verflechtungen zwischen Anhängern der Freiwirtschaftslehre und dem Nationalsozialismus befasst. [21] Basierend auf einer hierzu veröffentlichten Erklärung hat sie längst entsprechende Schritte eingeleitet und einen durch verschiedene Publikationen transparent gestalteten Diskurs eröffnet.

Die aktuelle Relevanz der Geld- und Bodenreformbewegung

In der Stellungnahme wird behauptet, die Freiwirtschaftslehre nebst späterer Fortführungen sei im akademischen Umfeld bedeutungslos. Selbst wenn dies zuträfe, wäre das kein Argument gegen eine zukünftig intensivere Beschäftigung mit dieser Thematik. Zudem könnte das Ignorieren dieser Strömung teilweise auch ein Resultat der Bierl-Ditfurth-Kampagne sein. Was verleumdet oder diffamiert wird, hat logischerweise wenig Chancen, von den Wissenschaften aufgegriffen zu werden. Weiterhin ist der heikle – um nicht zu sagen: tabuisierte – Kern, den Gesells Zinskritik berührt, insbesondere der Status Quo, welcher damit in den Fokus gerät, ein mehr als verständlicher Grund (wenngleich keine Rechtfertigung) dafür, dass Politik und Wissenschaft dieser unbequemen Herausforderung tunlichst ausweichen.

Auch der Hinweis, es hätten keine theoretischen Weiterentwicklungen der Freiwirtschaftslehre stattgefunden, ist unzutreffend. Ein als Beleg herangezogenes Zitat Gesells, wonach dieser selbst keine Veranlassung gesehen habe, „irgend etwas an diesen Theorien zu ändern“, erweist sich dabei als fulminantes Eigentor. Dies heißt nämlich keineswegs, dass andere davon abgehalten werden (sollen) – ganz im Gegenteil. Auch Smith, Ricardo, Marshall, Keynes und viele andere ökonomische Vordenker haben Theorien hinterlassen, deren Kern nie verändert wurde – andernfalls wäre die Identität der eigentlichen Theorie hinfällig geworden –, die jedoch in unzählige Weiterentwicklungen und spezifischere Anwendungen eingeflossen sind oder notwendige akademische Kontroversen stimulierten, die bis heute andauern.

Und selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die Grundgedanken der Geld- und Bodenreform weniger einer theoretischen Weiterentwicklung als ihrer praktischen Umsetzung bedürfen, ergäbe sich gerade auch daraus enormer Forschungsbedarf. Hier knüpfen die zahlreichen Projekte sog. „Regional“- oder „Komplementärwährungen“ an, für die sich eine immer größere Zahl von Wirtschaftswissenschaftlern zu interessieren beginnt. Von diesen „Regio“-Systemen, die fast ausschließlich an Gesells Idee einer per Negativzins umlaufgesicherten Währung anknüpfen, existieren momentan weltweit mehr als 2500 (zweitausendfünfhundert). [22] An übergreifenden Netzwerken, Initiativen, Tagungen und vor allem Veröffentlichungen dazu mangelt es ebenfalls nicht.

Die Geld- und Bodenreformbewegung aus Sicht der Nachhaltigkeitsforschung

Die aus der Freiwirtschaftslehre hervorgegangene Geld- und Bodenreformbewegung – sie fußt beileibe nicht nur auf Gesells Schriften – liefert mögliche konzeptionelle und theoretische Grundlagen für eine nachhaltigkeitskompatible Ökonomie. Der seinerzeit u.a. durch den Club of Rome ausgelöste und mittlerweile mit dem Leitbild einer nachhaltigen Entwicklung verbundene Diskurs hat sich während der vergangenen Jahrzehnte erfolglos bemüht, einen Weg zu markieren, der permanentes Wirtschaftswachstum in Einklang mit einem hinreichenden Schutz der ökologischen Lebensgrundlagen bringen könnte. Trotz aller weiterhin grassierenden Fortschritts-, Technik- und Innovationseuphorie stellt sich für eine zunehmende Anzahl von wirtschafts- und sozialwissenschaftlichen Nachhaltigkeitsforschern folgendes heraus: Die beiden Grundpfeiler des ersehnten „qualitativen“, d.h. von Ressourcenverbräuchen „entkoppelten“ Wachstums, nämlich Dematerialisierung im Sinne von Ressourceneffizienz und ökologische Konsistenz im Sinne von Kreislauf- oder Bionik-Ansätzen, kratzen bestenfalls an den Symptomen.

Auch die längst Realität gewordene Vision einer „Informations“- oder „Wissensgesellschaft“ hat nicht verhindern können, dass graduelle, bestenfalls bei isolierter Betrachtung eintretende Umweltentlastungseffekte einzelner Innovationen von den jeweils nächsten Wachstumsschüben stofflich und energetisch überkompensiert werden. Mehr noch: Das ökologisch konterkarierende Wachstum wird nicht selten durch dieselben technologischen Paradigmen, die um ihrer vermeintlichen Umweltentlastungswirkungen willen forciert werden, systematisch induziert. Wenn folglich das Wachstumsproblem auf die Agenda der Nachhaltigkeitsforschung gelangt, ergeben sich mindestens drei Herausforderungen, nämlich die Bearbeitung systemimmanenter (Zins, Geld, Investitionen, Eigentum), kultureller (Konsumkulturen etc.), und sozialer bzw. verteilungspolitischer Wachstumsursachen. Der durch die Geld- und Bodenreformbewegung gespeiste Diskurs bietet Anknüpfungspunkte zu allen drei Aspekten.

Systemimmanente Wachstumsursachen: Eine wichtige, aus den 1980er Jahren stammende Weiterentwicklung der freiwirtschaftlichen Zinskritik besteht darin, diese als Erklärungsgrundlage für den permanenten Wachstumszwang moderner Marktwirtschaften heranzuziehen. Jedes Unternehmen, das sich zur Vorfinanzierung seiner Investitionen verschuldet, setzt sich dem Zwang aus, neben der Kreditrückzahlung auch die Zinszahlungen zu erwirtschaften, also zu wachsen. Wird dieser Zusammenhang auf die makroökonomische Ebene projiziert, ergibt sich eine positive Korrelation zwischen durchschnittlichen Kapitalmarktzinsen und einer mindestens erforderlichen Wachstumsrate des Sozialprodukts. Wird diese unterschritten, kommt es unweigerlich zu Bankrotten, die wiederum über Multiplikatoreffekte weitere Zusammenbrüche nach sich ziehen. Auswege aus der Wachstumsspirale werden sich kaum finden lassen, wenn dieser Zusammenhang weiter ignoriert wird. Deshalb bietet es sich an, vorliegende Währungskonzeptionen, die auf anderen Zinssystemen beruhen, ins Visier zu nehmen. Zu untersuchen wäre die Möglichkeit einer Wirtschaft, die sich unter der Bedingung einer gesicherten Geldzirkulation und bei einem Zins von nahe Null unabhängig davon stabilisieren ließe, ob sie wächst, stagniert oder schrumpft.

Die schon erwähnten Komplementärwährungen orientieren sich an dieser Überlegung. Sie sind zwecks Umlaufsicherung mit einem Negativzins versehen, der dann fällig wird, wenn die Währung über einen bestimmten Zeitraum nicht den Besitzer gewechselt hat, also gehortet wurde, oder in die offizielle Landeswährung zurück getauscht wird. Regionale Währungen dieser Art lassen sich ohne politische Interventionen komplementär zur geltenden Hauptwährung einführen, wie die vielen Praxisprojekte inzwischen belegen. Daraus folgt eine äußerst konkrete Option für eine von Wachstum unabhängige Gestaltung regionaler Ökonomien. Zu verschweigen, dass diese seit Jahrzehnten erprobten Ansätze tatsächlich durch Gesells Vorschlag sog. „rostender Banknoten“ vorweggenommen wurde, entspräche einer Geschichtsklitterung, ganz gleich, was von der Person Gesells zu halten ist. Zudem tangiert die von Gesell analysierte Zinsproblematik vier weitere wissenschaftliche Brennpunkte, nämlich (1) die Frage, ob Geld realwirtschaftlich neutral sein kann, (2) die Rolle der Umlaufgeschwindigkeit als Determinante für ökonomische (In-) Stabilität und (3) die Möglichkeit einer Parallelität unterschiedlicher, je nach Funktion ausgestalteter Währungen und (4) schließlich die Bedeutung der von Gesell entwickelten Zinstheorie, die Binswanger [23] immerhin in Vorläuferschaft zur Zinstheorie von Keynes sieht.

Verteilungspolitische Wachstumsursachen: In Anlehnung an den obigen Zusammenhang weist Creutz [24] darauf hin, dass der Automatismus des Zins- und Zinseszinseffektes eine zunehmende Diskrepanz zwischen Arbeits- und Kapitaleinkommen herbeiführt. Wächst das Sozialprodukt z.B. um zwei Prozent, so können beide Einkommenskategorien um denselben Wert zunehmen, ohne dass Krisen verursacht werden. Verlangt aber eine der Beziehergruppen mehr als zwei Prozent, muss die andere zwangsläufig mit weniger auskommen. Die Ansprüche des Geldkapitals haben aufgrund ihrer vertraglichen Sicherung immer den Erstzugriff bei der Verteilung des Volkseinkommens. Je geringer das Wachstum ausfällt, umso dramatischer wirken sich die infolge des Zinseszinseffektes steigenden Ansprüche des Geldkapitals aus. Die Vorrangstellung des Letzteren bewirkt, dass für verschuldete Unternehmen vorwiegend Einsparungen im Lohnbereich und/oder eine Verringerung der Investitionen als Optionen verbleiben. Dies führt zu Arbeitslosigkeit und verringerter Nachfrage, woraus sich eine Abwärtsspirale ergibt. Auch die Chancen einer gegensteuernden Konjunkturpolitik schwinden aufgrund sinkender Steuereinnahmen; zumindest ab einem bestimmten Ausmaß an Staatsverschuldung. Vollbeschäftigung und Kaufkraftstabilität, so folgert Creutz, sind deshalb – wenn es zu keiner Geldreform kommt – nur durch ein Wirtschaftswachstum zu gewährleisten, das mit den exponentiell steigenden Ansprüchen des Kapitals Schritt hält.

Kulturelle und nachfrageseitige Wachstumsursachen: Die angesprochenen Regionalwährungen können jenseits ihres Beitrags zur Milderung von Wachstumszwängen zur ökonomischen Stabilisierung von Regionen beitragen. Indem sich ihr Geltungsbereich auf Leistungen und Produkte regionaler Herkunft beschränkt, wird Kaufkraft an die vor Ort ansässigen Produzenten gebunden. Damit lassen sich vorhandene Ressourcen zu regionalen Wertschöpfungsketten rekombinieren. Neben einer Steigerung der ökonomischen und zugleich sozialen Autarkie gegenüber globalen Verflechtungen werden Stoff- und Energieflüsse reduziert. Genau hierin sehen nicht wenige Wirtschaftswissenschaftler eine Grundbedingung für nachhaltige, nämlich möglichst regional verankerte Konsummuster.

Weitere Nachhaltigkeitsbezüge ergeben sich auch infolge einer „Neubewertung der Freiwirtschaftslehre aus wirtschaftsethischer Sicht“ [25] und durch die Übertragung des Bodenreformgedankens auf andere begrenzte Ressourcen wie etwa die Atmosphäre in Verbindung mit Klimaschutz. [26]

Fazit

Eine nicht nur, aber zukünftig notwendigerweise auch verstärkt wachstumskritische Nachhaltigkeitsforschung müsste geradezu blind sein, wenn sie die diesbezüglich relevanten Elemente der Geld- und Bodenreformbewegung ignoriert. Damit kann nicht gemeint sein, sich allein auf Darlegungen im Gefolge von Gesell zu konzentrieren oder gar dessen Weltbild zu akzeptieren. Adäquat wäre vielmehr eine unvoreingenommene, aber kritische Prüfung und Bearbeitung jener Theoriezugänge, die sich aus der Geld- und Bodenreform ergeben. Dies betrifft die oben skizzierten Nachhaltigkeitsbezüge, die Gesell selbst fremd gewesen sein dürften. In diesem Sinne beschränkt sich das Archiv der Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung auch nicht auf Quellen, die von Gesell stammen, sondern integriert sämtliche Stränge, die in Verbindung mit Geld- und Bodenreformideen stehen. Auffällig ist zudem, dass die von der Stiftung Geld- und Bodenreform und der ihr nahe stehenden Sozialwissenschaftlichen Gesellschaft initiierten Veranstaltungen zusehends das komplette Themenspektrum der Nachhaltigkeitsdebatte abdecken. [27]

Dem Archiv für Geld und Bodenreform an der Universität Oldenburg gar eine Daseinsberechtigung abzusprechen, wie in der Stellungnahme ebenfalls geschehen, wäre aus wissenschaftlicher Sicht nicht nur absurd, sondern käme dem Versuch gleich, ein für die Nachhaltigkeitsforschung essentielles Thema mit einer Zensur zu belegen. Um es nochmals zu unterstreichen: Sowohl die von der Geldreformbewegung, die sich unter anderem auf Gesell bezieht, als auch von der Bodenreformbewegung, basierend auf den Arbeiten von Damaschke, George etc. ausgehenden Überlegungen sind einmalig im Hinblick auf ihren ökonomischen Kern. Wer sich mit diesen beiden Hauptsträngen jener Reformansätze beschäftigt, die das Archiv neutral und keineswegs „glorifizierend“ dokumentiert, vermag kaum zu glauben, dass die Wirtschaftswissenschaften sich diesen Themen bislang derart versperren konnten. Eine Leistung des Archivs besteht darin, den beträchtlichen Literaturfundus nebst bislang nicht verfügbarer Quellen zugänglich zu machen – auch für jede kritische Auseinandersetzung: Selbst Bierl und Ditfurth könnten sich dieses Archivs bedienen.

Anmerkungen:

[1] Für diese Debatte ist entscheidend das vierte Kapitel des Buches, welches sich mit Silvio Gesell und der Freiwirtschaftslehre auseinandersetzt.

[2] Vgl. etwa http://www.sozialoekonomie.info/BasisInformation/BasisInfo_8a/basisinfo_8a.html, http://www.sozialoekonomie.info/BasisInformation/BasisInfo_8b/basisinfo_8b.html, http://www.silvio-gesell.de/html/onken__igdr-lexikon.html.

[3] Eine zunächst nur im Internet erschienene, aber inzwischen als Broschüre publizierte Abrechnung mit Ditfurths Buch stammt von Klaus Schmitt („Entspannen Sie sich, Frau Ditfurth“). Sie ist online verfügbar unter http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/schmitt/entditfurth/. Dieser recht bekannte Text – das sei ausdrücklich vermerkt – verinnerlicht einen rhetorisch äußerst aggressiven, für Auseinandersetzungen innerhalb linker Milieus nicht untypischen Sprachstil, bewegt sich damit aber gerade auf dem Niveau von Ditfurths Buch.

[4] Vgl. hierzu etwa Janssen, H. (1998): Nationalökonomie und Nationalsozialismus, Marburg, Metropolis-Verlag.

[5] Swedberg, R. (1991): Joseph A. Schumpeter, His Life and Work, Princeton, Princeton University Press.

[6] Dieser Artikel von Marx ist einsehbar unter: http://www.mlwerke.de/me/me01/me01_347.htm

[7] Vgl. Whisker, J. B. (2001): Karl Marx: Anti-Semite, in: The Journal of Historical Review, Vol. 5, Nr. 1, 69-76.

[8] Vgl. Onken, W. (2004), Zum Gegensatz zwischen Geldreform und Antisemitismus. Stellungnahme zu Peter Bierls Diffamierungen, http://userpage.fu-berlin.de/~roehrigw/onken/WO-ueber-Bierl.htm.

[9] In diesem Punkt erweist sich die Kritik der Stellungnahme noch als verhältnismäßig moderat, zumal die Bierl-Ditfurth-Linie einen klaren Antisemitismus-Vorwurf vorbringt und nicht etwa „nur“ die Verwendung entsprechender Stereotypen anprangert.

[10] Gesell, S. (1891/1990): Nervus Rerum, in: Onken, W. (Hrsg.), Gesammelte Werke, Lütjenburg, Bd. 1, S. 140.

[11] Gesell, S. (1925/2000): Die Natürliche Wirtschaftordnung, in: Onken, W. (Hrsg.), Gesammelte Werke, Lütjenburg, Bd. 11, S. 72.

[12] Onken, W. (2004): Für eine andere Welt mit einem anderen Geld. Sind die Geldreformer wirklich Antisemiten? Beitrag zur Attac-Sommerakademie am 1.8.2004 in Dresden u Volltext

[13] Vgl. hierzu auch Geden, O. (1996): Rechte Ökologie, Elefantenpress, Berlin, S. 157. Geden, der sich sehr kritisch mit Gesell auseinandersetzt (und auf den sich Bierl und Ditfurth zumeist dort berufen, wo sie einen seriösen Beleg für den Vorwurf des Sozialdarwinismus und/oder Antisemitismus benötigen), räumt immerhin ein, dass „wesentliche Tendenzen“ in Gesells Gesamtwerk eben „eine breite Rezeption seines Werkes in der völkischen Bewegung und im Nationalsozialismus verhinderten“.

[14] Onken, W. aaO.

[15] Zu dieser Thematik siehe Janssen, H. (1998): Nationalökonomie und Nationalsozialismus, Marburg, Metropolis-Verlag.

[16] Vgl. Ditfurth, J. (1997): Entspannt in die Barberei, S. 56 bzw. S. 101.

[17] Woekl, V. (1992): Natur und Mythos. Ökologiekonzeptionen der "Neuen" Rechten im Spannungsfeld zwischen Blut und Boden und New Age, DISS-Texte Nr. 21, Duisburg.

[18] Geden, a.a.O.

[19] Otani, Y. (1979): Ein Aufruf an die Deutschen, in: Unabhängige Nachrichten 12/79, S. 2, zitiert nach Geden a.a.O, der wiederum zitiert nach Antifa-Gruppe Harburg-Land (1986): Wehret den Anfängen! Über rechtsextreme Tendenzen bei den GRÜNEN (ohne Ort), S. 4.

[20] Otani, Y. (1981): Untergang eines Mythos, Hamburg, S. 135.

[21] Vgl. Onken W./Bartsch, G. (1997): Natürliche Wirtschaftsordnung unter dem Hakenkreuz, Lütjenburg; Onken, W. (1984): War Silvio Gesell ein Faschist?, in: Schwarzer Faden, Nr. 3.

[22] Vgl. Lietaer, B. (1999): Das Geld der Zukunft, München, Riemann-Verlag, S. 281 sowie http://www.transaction.net/ money/community/.

[23] Vgl. Binswanger, H. C. (2006): Die Wachstumsspirale, Marburg, Metropolis-Verlag, S. 131.

[24] Creutz, H. (1993): Das Geldsyndrom, München sowie Creutz, H. (2004): Wachstum, Wachstum über alles, in: Politische Ökologie, 89, S. 78-79.

[25] Wirth, R. (2003): Marktwirtschaft ohne Kapitalismus. Eine Neubewertung der Freiwirtschaftslehre aus wirtschaftsethischer Sicht, Bern/Stuttgart/Berlin.

[26] Vgl. Löhr, D. (2004): Auf das System der Verteilung kommt es an. Handelbare Flächennutzungsrechte, in: Politische Ökologie, 93, S. 74-76.

[27] Vgl. http://www.sozialwissenschaftliche-gesellschaft.de/