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Werner Onken:
Silvio Gesell im IDGR-Lexikon gegen Rechtsextremismus
Angesichts der Gefahr, dass die anhaltende Massenarbeitslosigkeit zum Nährboden für eine weitere Ausbreitung von rechtsextremistischen Ideologien werden könnte, verfolgte das IGDR-Lexikon des Informationsdienstes gegen Rechtsextremismus das berechtigte Ziel, Anzeichen dieser Gefahr durch aufklärende Informationen besser sichtbar zu machen.
Das IDGR-Lexikon enthielt jedoch auch einen Artikel von Monika Kirschner über Silvio Gesell, worin diesem zu Unrecht unterstellt wird, „Vertreter eines völkischen Antikapitalismus“ gewesen zu sein und der NS-Ideologie nahe gestanden zu haben. Eigenartigerweise bezieht sich Monika Kirschner bei ihrer Darstellung der Gedanken von Silvio Gesell auf keine einzige Originalquelle, obwohl Gesells Werke vollständig vorliegen. Stattdessen beruft sie sich allein auf Sekundärquellen von Jutta Ditfurth, Peter Bierl und anderen Autoren, die Gesell als Träger rechtsextremistischer Gedanken diffamieren.So wurden Falschinformationen und Fehlinterpretationen seines Werkes über das IDGR-Lexikon weiter verbreitet.
Falschinformationen
● Monika Kirschner schreibt, dass Gesell erst ein „spätes Interesse“ an volkswirtschaftlichen Fragen entwickelt habe. Tatsächlich war er noch keine 30 Jahre alt, als seine ersten Veröffentlichungen über eine Reform des Geldes in Buenos Aires erschienen. Von da an widmete er seine ganze Kraft dem Versuch, seine Gedanken zur Lösung der sozialen Frage der Sozialdemokratie und den Gewerkschaften näher zu bringen.
● Entgegen Kirschners Behauptung war Gesell kein Vertreter des völkischen Antikapitalismus und gehörte auch nicht dem „Deutschen Erneuerungsbund“ an. In dem von ihr ebenfalls als Quelle angeführten Werk „Die völkische Bewegung im wilhelminischen Kaiserreich“ von Uwe Puschner (Berlin 2001) bleibt Gesell - zu Recht - unerwähnt.
● Der „Eden-Genossenschaft“ in Oranienburg hat Gesell zeitweise angehört, ohne in ihre eine leitende Funktion zu übernehmen. Abgesehen davon verdient auch die „Eden-Genossenschaft“ anstelle einer pauschalen Verurteilung als „völkische Siedlung“ eine differenziertere Behandlung (vgl. hierzu Hermann Kaienburg, Der Traum vom Garten Eden – Die Gartenbausiedlung „Eden“ in Oranienburg als alternative Wirtschafts- und Lebensgemeinschaft, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Nr. 12/2004, S. 1077 – 1090).
● Der NS-Wirtschaftstheoretiker Gottfried Feder hat Gesells Theorien nicht übernommen. Das Gegenteil war der Fall. Feder hat sie nachweislich explizit abgelehnt: „Der gefährlichste dieser deutschen Propheten war und ist Silvio Gesell. Seine Lehre von Freiland und Freigeld hat geradezu Verheerungen angerichtet in vielen deutschen Köpfen. Die restlose Ablehnung und wissenschaftliche Erledigung der Gesellschen Irrlehre kann heute als Gemeingut des Nationalsozialismus angesehen werden.“ (Gottfried Feder, Falsche Propheten und Schwarmgeister, in: Völkischer Beobachter vom 27.10.1923)
● Eine „Silvio-Gesell-Gesellschaft“ gibt es gar nicht. Auf Gesells Gedanken bauen stattdessen eine „Stiftung für Reform der Geld- und Bodenordnung“ sowie die „Sozialwissenschaftliche Gesellschaft“, die „Initiative für Natürliche Wirtschaftsordnung“, die „Christen für gerechte Wirtschaftsordnung“ und das „Seminar für freiheitliche Ordnung“ auf. Im Einklang mit den Grundwerten der Menschenrechte und der Demokratie bemühen sich diese Organisationen - durchaus nicht unkritisch - um eine Aktualisierung und Weiterentwicklung von Gesells Denkansätzen und legen Wert auf eine Distanzierung sowohl gegenüber rechts- als auch gegenüber linksextremistischen Ideologien. Darüber hinaus gab und gibt es einige weitere Gruppierungen und Einzelpersonen, die sich von solchen Ideologien nicht immer mit der gleichen Klarheit abgegrenzt haben bzw abgrenzen. Insofern waren die Angaben in weiteren Artikeln des IDGR-Lexikons über die „Freiwirtschaft“ nicht gänzlich falsch.
Fehlinterpretationen
Gesells Ziel einer Bodenrechts- und Geldreform war im Gegensatz zur Darstellung von Monika Kirschner sehr wohl „in erster Linie wirtschaftspolitischer Art“.
● Von Darwins Evolutionslehre ließ sich Gesell erst rund 10 Jahre nach dem Erscheinen seiner Frühschriften beeinflussen. Dazu bewog ihn der Wunsch, seine wirtschaftspolitischen Ziele mit den geistigen Strömungen seiner Zeit zu verbinden. Außer an Darwin orientierte er sich an Max Stirner und Friedrich Nietzsche. Von Darwin waren damals im Übrigen auch andere soziale Bewegungen beeinflusst; es gab sogar Publikationen über eine „sozialdemokratische Eugenik“.
● Es war sehr wohl die emanzipatorische Absicht Gesells, mit der Bodenrechts- und Geldreform zur Schaffung von sozialer Gleichheit beizutragen. Es ging ihm gerade nicht um die Rechtfertigung sozialer Hierarchien und er hat auch den medizinischen Fortschritt nicht abgelehnt.
● In seinen ökonomischen Reformtheorien ist nirgendwo von einer Forderung nach einer Abschaffung des Geldes die Rede. Stattdessen wollte Gesell das Geld so reformieren, dass es für alle Menschen zu einem gerechten Mittel des Tauschens und Leihens wird. Er betrachtete die gesamte Menschheit als einen „internationalen Organismus“ (Gesammelte Werke Band 5, S. 245) und entwickelte deshalb nach dem ersten Weltkrieg die Grundgedanken einer internationalen Währungsordnung, die zum Frieden zwischen den Menschen und Völkern beitragen sollte (Gesammelte Werke Band 12, S. 149 - 190).
● Die ganze Erde betrachtete Gesell dementsprechend als unveräußerliche Lebensgrundlage und Heimat aller Menschen im Universum, als ein unteilbares Wirtschaftsgebiet: „Den Schwarzen, den Roten, den Gelben, den Weißen - allen ohne Ausnahme gehört die Erde ungeteilt. … Der Friede fordert keine Menschenopfer, aber das Opfern köstlicher Vorrechte, lieb gewonnener Vorurteile, völkischer Bestrebungen und Lebensanschauungen.“ (GW Band 10, S. 75; Band 11, S. 56 und 99)
● Die Verwendung der Bodenrente als „Mutterlohn“ war bei Gesell dem damaligen Zeitgeist entsprechend zwar auch mit geistigen Anleihen von Darwin, aber nicht mit einer rassistischen Einstellung verbunden.
In ökonomischer Hinsicht ging es ihm mit dem „Mutterlohn“ um eine Befreiung der Mütter aus der materiellen Abhängigkeit von den ökonomisch überlegenen Vätern ihrer Kinder. Im Sinne einer Rollenflexibilisierung wäre in den Fällen, in denen Mütter erwerbstätig sind und Väter die Familienarbeit übernehmen, auch ein „Vaterlohn“ denkbar. Der Gedanke eines Entgelts für die innerhäusliche Familienarbeit war ein Vorläufer des „Elterngeldes“, dem sich die aktuelle familienpolitische Diskussion in bislang zu kleinen Schritten nähert.
Bei Gesells Verbindung der ökonomischen Gleichstellung von Müttern und Vätern mit der darwinistischen Evolutionslehre ging es keineswegs um „Menschenzucht“, sondern um die Möglichkeit vor allem für Frauen, unglückliche Ehen zum Beispiel mit Alkoholikern zu beenden, ohne dadurch in wirtschaftliche Not zu geraten.
In der späteren Anhängerschaft Gesells spielt die Verbindung von „Mutterlohn“ und Darwinismus keine Rolle mehr. Außerdem gibt es Überlegungen, die Bodenrente pro Kopf an die Bevölkerung zurückzuverteilen - unabhängig vom Geschlecht - und die ökonomische Absicherung von Familien durch eine Umverteilung von Arbeitseinkommen zu gewährleisten.
● Aufgrund seiner Auslandserfahrungen hat Gesell den damals - auch in den verschiedenen Strömungen der Arbeiterbewegung - weit verbreiteten Ideologien von Rassismus, Antisemitismus und Nationalismus schon frühzeitig eine internationalistische Denkweise gegenübergestellt. Statt eine „Überlegenheit der weißen Rasse“ zu behaupten, hat er bereits um die Mitte der 1920er Jahre vor einem Krieg zwischen menschlichen Rassen gewarnt. (GW Band 14, S. 208; Band 15, S. 109, 198 – 202 und 245 – 249)
Fazit
Die Geschichte kennt viele Beispiele von Menschen, über die „allerlei Übles geredet“ wurde (Mt. 5.11), weil ihre Gedanken als Gefahr für Privilegien und Ideologien empfunden wurden. Andererseits hat die Allgemeinheit einen Anspruch darauf, sich zu vergewissern, dass die auf Verbreitung wartenden Gedanken vertrauenswürdig sind und sich nicht doch eines Tages als neuer extremistischer Wolf im Schafspelz erweisen. Insofern können sogar Verleumdungen auch klärende Wirkungen haben.
Die derzeit zumeist von marxistischer Seite kommenden Attacken gegen Silvio Gesells Denkansatz einer Bodenrechts- und Geldreform sind gleichsam eine Fortsetzung des Kampfes von Marx und Engels gegen die als ‚kleinbürgerlich’ und ‚utopisch’ verunglimpften freiheitlichen Sozialisten. Bei aller Fragwürdigkeit könnten diese Attacken indessen auch als Anzeichen dafür aufgefasst werden, dass die Bodenrechts- und Geldreformansätze auf ihrem Weg vom Ignoriertwerden bis zur späteren Anerkennung ihres gedanklichen Kerns als Selbstverständlichkeit die Zwischenstation des Bekämpftwerdens erreicht haben. Sie ist zwar schmerzlich, kann aber von den Nachfolger/innen Gesells auch mit Gelassenheit ausgehalten und als Chance genutzt werden, sich den Licht- und Schattenseiten ihrer eigenen Geschichte zu stellen und sich des in Menschenrechten und Demokratie verankerten Kerns der Bodenrechts- und Geldreform zu vergewissern.
Anhänger wie Gegner von Silvio Gesells Geld- und Bodenrechtsreform sollten sowohl die authentischen Quellentexte als auch deren spätere Rezeption zur Kenntnis nehmen. Dann kann deutlich werden, dass die Geld- und Bodenrechtsreform keines der Kriterien erfüllt, die dem Politologen Kurt Lenk zufolge typisch für rechtsextremistische Denkweisen sind (vgl. Kurt Lenk, Rechtsextreme „Argumentationsmuster“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte - Beilage zur Wochenzeitung das Parlament Nr. 42/2005, S. 17 - 22):
● Im Gegensatz zu rechtsextremistischen Feindbildern verteufelt die Geld- und Bodenrechtsreform nicht den Liberalismus, Individualismus und Internationalismus, sondern sie fußt auf diesen Errungenschaften von Humanismus und Aufklärung und möchte sie vor kapitalistischen Verfälschungen schützen.
● Im Gegensatz zum rechtsextremistischen Antimodernismus möchte die Geld- und Bodenrechtsreform die Entwicklung von Banken und Börsen, Technik und Kultur lediglich in marktwirtschaftliche statt kapitalistische Bahnen leiten.
● Die Geld- und Bodenrechtsreform verfügt bislang über keine hinreichende Klarheit über politische Wege zur Verwirklichung ihrer Ziele. Dessen ungeachtet vertritt sie weder Elitenideologien noch Führerprinzipien. Ebenso wenig huldigt sie einem heroischen Männlichkeitskult. Und schließlich stellt die Anwendung von Gewalt für sie keinen Weg zur Lösung von Konflikten dar.
‚Antifaschismus’ macht sich unglaubwürdig, wenn er mit unredlichen Mitteln Denkansätze in Misskredit zu bringen versucht, die in weiterentwickelter Form vielleicht dazu beitragen könnten, die wirtschaftliche Dauerkrise zu überwinden und damit extremistischen Gefährdungen für Menschenrechte und Demokratie ihren Nährboden zu entziehen.