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Bertha Heimberg:
Vorschläge zur Bekämpfung und Ausrottung des Judenhasses

Original-Manuskript Seite 1

Vorbemerkung: Bertha Heimberg (1894-1966) entstammte einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Brilon/Sauerland und Essen/Ruhr. In den ersten Jahren nach dem Ersten Weltkrieg war sie Sekretärin im „Gewerkschaftsbund der Angestellten“ (GdA) und lernte durch dessen Vorsitzenden Wilhelm Beckmann die Geld- und Bodenreformtheorien von Silvio Gesell kennen. Bertha Heimberg befreundete sich mit Silvio Gesell, engagierte sich im „Freiwirtschaftsbund“ (FWB) und übernahm in enger Zusammenarbeit mit Gesell 1929 die Geschäftsführung des FWB. Nach Gesells Tod im März 1930 hielt sie die Grabrede bei der Trauerfeier.

   Nach der Machtübernahme durch die NSDAP am 30.1.1933 organisierte Bertha Heimberg heimliche Treffen mit Anhängern von Gesells Theorien in Essen und floh 1938 vor der Gestapo nach England. Vier ihrer 11 Geschwister kamen während der NS-Tyrannei in Vernichtungslagern ums Leben. Von zwei weiteren Geschwistern fehlte jede Spur. Eines der überlebenden Geschwister, der Bruder Siegfried Heimberg, leitete nach 1945 die Jüdische Gemeinde Dortmund und den Landesverband der Jüdischen Gemeinden von Westfalen-Lippe. 1948 kehrte Bertha Heimberg aus ihrem Londoner Exil nach Essen zurück, wo sie sich wieder für die Geld- und Bodenreformziele Gesells engagierte und 1966 verstarb.

   Die nachfolgend wiedergegebenen „Vorschläge zur Bekämpfung und Ausrottung des Judenhasses“ verfasste Bertha Heimberg im März 1946 in ihrem Londoner Exil. Sie blieben unveröffentlicht und wurden nur als vervielfältigtes Manuskript an ausgewählte Freunde weitergegeben. Ein Exemplar dieses Manuskripts wurde kürzlich im Nachlass des Berliner Rechtsanwalts und Notars Klaus Wulsten (1925 – 2018) gefunden. Es gelangte in das „Archiv für Geld- und Bodenreform“ in der Bibliothek der Carl von Ossietzky-Universität Oldenburg. Die Veröffentlichung von Bertha Heimbergs „Vorschlägen zur Bekämpfung und Ausrottung des Judenhasses“ als historisches Dokument erfolgt auch im Hinblick auf die sich in den letzten Jahren häufenden Angriffe auf jüdische Synagogen, Gedenkstätten und Kultureinrichtungen und auf die Notwendigkeit, den Antisemitismus wieder zurückzudrängen. Zudem enthalten Bertha Heimbergs Vorschläge Gedanken, die bislang in den Auseinandersetzungen um den Antisemitismus und seine Bekämpfung weitgehend fehlen.

Werner Onken, 31.10.2021

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   Niemand wird leugnen können, dass alle bisherigen Versuche, den Judenhass zu überwinden oder ihn nur wirksam zu bekämpfen, zu keinem befriedigenden Resultat geführt haben. Es ist deshalb selbstverständlich, wenn nicht gar eine Pflicht, die bisherigen Abwehr- und Kampfmethoden zu überprüfen. Es ist dies umso mehr die Pflicht der überlebenden Juden, da trotz der grausamen Judenverfolgung durch Hitler der Judenhass in der Welt keinen Abbruch erlitten hat. Bevor ich nun zu meinen Vorschlägen komme, eine kurze Einschaltung. Dr. Reiwald, Privatdozent an der Universität in Genf, schlägt vor, das Wort „Antisemitismus“ aufzugeben und für die Sache besser und treffender das Wort „Judenhass“ zu verwenden.[1]  Auch ich werde in dieser Arbeit so weit als möglich nur vom Judenhass sprechen, weil es für Außenstehende zumindest die judenfeindliche Bewegung durchsichtiger macht.

   Ich rege hiermit an, eine Bewegung ins Leben zu rufen, zusammengesetzt aus Juden und Nichtjuden, die sich folgende Aufgabe stellt:

1.  Dem Judenhass der Gegenwart, so weit es unter den gegebenen Verhältnissen möglich ist, mit neuen wirksameren Mitteln zu begegnen (nur als Zwischenlösung gedacht).

2.  Die Erstrebung der völligen Ausrottung des Judenhasses mit zulänglichen Mitteln.

   Zu 1:

a)  Wir fordern: Die Aufreizung zum Judenhass wird gesetzlich unter Strafe gestellt.
Begründung: Die Judenhetzer säen, bewusst aufgebaut auf unwahren Behauptungen, blinden Hass, der in Zeiten wirtschaftlicher Störungen (Krisen) und politischer Unsicherheiten oft in Plündern, Brennen, Foltern und Morden mündet. Bei der Bewegung der Judenhetze handelt es sich ganz unzweideutig um die geistige und unmoralische Vorbereitung zu den vorgenannten schweren Verbrechen – Verbrechen, die in anderen Fällen bereits unter schweren Strafen stehen. Mit einem Gesetz, wie es hier vorgeschlagen wird, machen wir die judenfeindliche Bewegung zu dem, was sie ist: zu einer Verbrecherorganisation. Wir entziehen ihr damit den vorgeschobenen wissenschaftlich geistig berechtigten Charakter, nehmen ihr die sogenannte Salonfähigkeit, entziehen ihr die Plattform, von der aus sie gutgläubige, anständige Menschen durch die geschickte Lügenpropaganda an sich ziehen konnten.

b) Die soziale Gesetzgebung des Judentums sollte der Vergessenheit entrissen werden.
Über jüdische Glaubensgesetze, jüdische Staatsgesetze, jüdische Tradition und Lebensführung herrschen im Volk Auffassungen, die in keiner Weise mit der Tatsache übereinstimmen. Die soziale Gesetzgebung des alten Judentums ist ihm unbekannt, so weit sie vom Christentum nicht übernommen wurde oder nur sehr nebensächliche Erwähnung erfährt. Die judenfeindliche Bewegung hat nun außerdem diese sozialen Gesetze sehr oft bewusst falsch interpretiert. Ich fordere daher, dass von guten Kennern der jüdischen Gesetzgebung eine Zusammenstellung der wesentlichen Teile der sozialen Gesetzgebung vorgenommen wird, um sie der breiten Öffentlichkeit durch Wort und Schrift bekannt zu geben. Ich erinnere hier z.B. an „Der Zehnte für die Armen“, die Gesetze der Gastfreundschaft, den strengen Ruhetag auch für alle Arbeitenden, die Vorschriften im Falle eines Todes, das Jubeljahr, das Zinsverbot und vieles andere. Die soziale Gesetzgebung des Judentums war für die damalige Zeitperiode großartig und bahnbrechend, und die Veröffentlichung dieser Gesetzgebung dürfte für eine neue Beurteilung des Judentums bahnbrechend sein. Es steht hier nicht zur Debatte, ob jene soziale Gesetzgebung dem heutigen Stand der Wissenschaft entspricht, obwohl wir in manchem noch nicht darüber hinausgewachsen sind. Die vorgenannte Arbeit soll das Judentum in seinem sozialen Aufbau, seinen geistigen und sozialen Werten erscheinen lassen, um zu beweisen, dass die ihm durch eine Lügenpropaganda angehängte Minderwertigkeit geradezu ins Gegenteil verwandelt wird.

c) Gerichtliche Entscheidung gegen alle Fälschungen des Talmuds etc.
Der ehemalige „Stürmer“ und ähnliche judenfeindliche Zeitungen und Zeitschriften haben regelmäßig Auszüge aus dem Talmud absichtlich gefälscht veröffentlicht. Wir mögen im Augenblick denken, diese Publikationsorgane existieren nicht mehr; daher ist es überflüssig, sich damit zu beschäftigen. Wir sollten aber wissen, dass, wenn die judenfeindliche Bewegung irgendwo wieder stark und offen hervortritt, wenn sie wieder Spezialzeitungen herausgibt, dass sie dann auf die alten Fälschungen zurückgreifen wird. Für viele Menschen bekommt eine Sache sogar den Anstrich der Wahrheit, wenn es sich um alte wieder ausgegrabene Behauptungen handelt, insbesondere wenn diese unwidersprochen blieben. So wie ein Prozess gegen „Die Protokolle der Weisen von Zion“, der 1935 in Bern stattfand, so sollte jetzt ein Prozess eingeleitet werden, der die oben angeführten Fälschungen gerichtlich prüft und durch Gerichtsurteil als Fälschung dokumentiert. Wir entziehen damit der gegenwärtigen und künftigen Judenhetze erneut ein Stück ihrer irreführenden Propaganda. Diese gerichtliche Berichtigung sollte selbst dann vorliegen, wenn die Aufreizung zum Judenhass unter Strafe gestellt wird; sie könnte eine wertvolle Unterlage für das zu erstrebende Gesetz sein.

   Wir müssen uns jedoch der Tatsache bewusst sein, dass Verbote, Verträge etc. jederzeit abgeändert werden können, dass die vorgenannten Vorschläge nur Notvorschläge sein können und als Zwischenlösung zu betrachten sind. Wir haben nach einer Dauerlösung zu streben; doch dann haben wir den Sumpf trocken zu legen, auf dem der Judenhass gedeiht. Bei der Prüfung der Ursache zum Judenhass stoßen wir auf zwei Grundquellen: a) den Judenhass, der dem Religionshass entspringt, und b) den Judenhass aus wirtschaftlichen Gründen.

  Zu 2:

a) Religionsantisemitismus – Religionshass. Es ist eine nicht zu leugnende historische Tatsache, dass seit Jahrhunderten der Judenhass auf konfessionelle Kämpfe zurückgeht. Diese Seite des Judenhasses ist wiederum stets von Wirtschafts- und Machtkämpfen begleitet gewesen. Der Einfluss, den wirtschaftliche und politische Machtfragen im öffentlichen Leben spielten, sollte auf breiter Grundlage behandelt werden. Ich werde unter 2b) nur andeutungsweise darauf zurückkommen. Hier zunächst nur die rein konfessionelle Seite des Judenhasses.

   Da die Juden Christus nicht als Heiland anerkennen, so ist das wohl ein Grund des Gegensatzes prinzipieller Natur, aber es ist keine Hasswurzel, die zu blutigen Pogromen führen würde. Anders dagegen der Kreuzigungstod. Mein Jugenderlebnis – und viele werden mir bestätigen, dass sie Ähnliches erlebten – war ein Judenhass unter den Schulkollegen und Kolleginnen als Folge des Religionsunterrichts, wobei der Kreuzigungstod die Hauptrolle spielte. Die Juden haben unseren geliebten Heiland umgebracht; sie haben ihn ans Kreuz geschlagen – das brachte das Kind aus dem Religionsunterricht mit heim. In Wirklichkeit haben ja die Römer Christus gekreuzigt. Die jüngste Vergangenheit bietet uns einen anschaulichen Vergleich. Wer würde die Staatsbürger jener Länder, die durch Hitler unterdrückt waren, für die Gräueltaten der Nazis verantwortlich machen oder schuldig sprechen? Die Darstellung der Leiden Christi, das Kreuz mit den blutenden Wunden und die Dornenkrone vervollständigen das Bild. Durch den Fortschritt der Wissenschaft wissen wir heute, welche Folgen die Schilderung der Leiden Christi auf ein empfindliches Kindergemüt haben muss. Ist es da verwunderlich, wenn diese Kinder nur zu oft den religiösen Judenhass mit ins Leben hinausnehmen, dass sie nie mehr von dem Eindruck aus der Kindheit loskommen, das antisemitische Religionsgift in sich tragen? Nur ein Beispiel. Aus jenen Kreisen meines Heimatdorfes, die uns als Kinder unter Kindern hassten, weil wir Juden waren, sind dort die Nazis und die Naziführer hervorgegangen. Gewiss hatten sich die meisten unter ihnen unter dem Einfluss der Nazibewegung auch von der Kirche getrennt (es handelt sich hier um die katholische Kirche), aber der Samen für den blutigen Judenhass war in der Religionsstunde gesät worden. Natürlich kamen später andere Einflüsse des Lebens hinzu, die ich im nächsten Kapitel behandeln werde. Das überall öffentlich gezeigte Kreuz als Sinnbild und Wahrzeichen der Kirche hält den Eindruck, den das Kind in der Religionsstunde empfing, wach. Zum besseren Verständnis will ich zu einem Vergleich greifen. Viele Sozialkämpfer, die für irgendein Menschheitsideal kämpften (es ist dabei nebensächlich, ob wir mit ihren Programmen, mit ihrer Zielsetzung übereinstimmen – sie selbst haben an den Wert ihrer Idee geglaubt) haben für ihre Idee am Galgen sterben müssen. Es handelt sich hier keineswegs um Verbrecher; es handelt sich um mutige Sozialkämpfer, die nach ihrer Auffassung für uns, für das kommende Wohl der Menschheit, für Freiheit und soziale Gerechtigkeit am Galgen endeten. Was würde der gebildete, ästhetische und empfindliche Mensch sagen, wenn im Geschichtsunterricht die Leidensgeschichte dieser Sozialhelden bis in alle Einzelheiten der Grausamkeit geschildert und, um die Sache vollständig zu machen, der Galgen zum Wahrzeichen der sozialen Bewegungen erhoben würde, denen die Gehängten angehört haben? Und was würden wir sagen, wenn die Menschen den Galgen als Schmuck tragen würden? Wo ist der Unterschied zwischen Kreuz und Galgen? Was man an edlen Erklärungen für das Kreuz vorbringen kann, kann man ebenso gut auf den Galgen anwenden.

  Wir sollten es uns zur Aufgabe machen, die christlichen Konfessionen auf die hier aufgezeigte Wirkung des gegenwärtigen Religionsunterrichts hinzuweisen, die im schroffen Widerspruch zu dem versöhnenden Teil der christlichen Konfession steht. Es ist des Weiteren zu fordern, dass der Religionsunterricht so erteilt wird, dass im Kind kein blinder Judenhass geweckt wird, dass die Seele des urteilslosen Kindes keinen Schaden nimmt. Sollten die christlichen Konfessionen eine Überprüfung des Religionsunterrichts ablehnen, sollten sie keine Entgiftung des Religionsunterrichts durchführen, dann sind sie in Zukunft nicht von den Folgen der antisemitischen Hetze freizusprechen; sie machen sich zu Mitschuldigen an Pogromen etc. Es bleibt allerdings den Gegnern des Judenhasses überlassen, dann von sich aus ohne Rücksichtnahme die breite Öffentlichkeit im vorgenannten Sinne aufzuklären. Ich kann mir nicht gut vorstellen, dass unter diesem Hinweis sich nun trotzdem die christlichen Konfessionen der Pflicht der Revidierung des Religionsunterrichts entziehen können oder werden.

Die wirtschaftliche Seite des Judenhasses.
b)  Eine entscheidende Rolle für die Entfaltung des Judenhasses und der stets wiederkehrenden brutalen Ausbrüche spielen die jeweiligen Wirtschaftszustände, die sich im politischen Leben widerspiegeln. Es gilt dies für die ganze Vergangenheit, wobei das Mittelalter besondere Erwähnung verdient. Es gilt für die Gegenwart und es wird Gültigkeit für die Zukunft haben. In der Abwehrbewegung wird oft darauf hingewiesen, dass Wirtschaftsneid und Berufsneid in hohem Ausmaße die Menschen in die judenfeindlichen Bewegungen treiben, dass Wirtschaftsneid der Haupthintergrund der judenfeindlichen Theorie sei. Ich kann es mir hier daher ersparen, auf diese Tatsache einzugehen. Was fast nie erwähnt wird und was meines Wissens noch nie untersucht wurde, das ist die Bedeutung, die der Zins bei der antisemitischen Vergiftung spielt. Ist es nicht so, dass in der ganzen Welt die Begriffe „Geld, Zins, Jude“ in untrennbaren Zusammenhang gebracht werden, dass diese in der Auffassung der Menschen sich als zusammengehörig widerspiegeln? So taucht die zwingende Frage auf, ob nicht die Zinsfrage die Zentralfrage, die Hauptkraftquelle des Judenhasses ist. Einige kurze Hinweise sollen hier die Aufmerksamkeit auf diese Seite des Problems lenken.

   Die katholische Kirche erließ im Mittelalter ein Zinsverbot für ihre Gläubigen. Als Wirkung dieses Zinsverbots trat so großer Kapitalmangel auf, dass der Zinsfuß auf 33 – 50 % stieg und sich sehr lange auf dieser Höhe bewegte. Ganz automatisch wurden nun die Juden die Geldverleiher, in vielen Fällen haben die Juden gegen Entgelt für Christen Geld ausgeliehen, weil diese es ja nicht gegen Zins ausleihen konnten. Und die Fürsten leisteten sich den sogenannten Zinsjuden, um das kirchliche Verbot zu umgehen. In vielen Fällen wurde zwar den Juden ihre persönlichen Zinseinnahmen durch Sondererlasse, Steuern etc. wieder abgenommen, doch den Eindruck, dass sie die Zinserpresser waren, wurden sie damit nicht los. Und die Fürsten, in vielen Fällen die wirklichen Zinseinnehmer, werden nach menschlichem Ermessen alles getan haben, damit kein Makel auf ihre Ehre fiel und dass sich die Empörung gegen die Juden richtete. Man stelle sich nun praktisch vor, welche Schuldenlast und Sorge auf den Schuldnern ruht, wenn ein Zins in der vorgenannten Höhe gezahlt werden muss. Die Lage wird für den Schuldner geradezu katastrophal, wenn Krisenjahre hinzutreten, wenn die Schuldner außer Stande sind, den laufenden Zins zu zahlen, so dass zur alten Urschuld noch Zins und Zinseszins hinzuwachsen. Ich bitte die Leser, bei dieser Tatsache einen Augenblick zu verweilen, um sich die Wirkung in Zahlen ausgedrückt vorzustellen. Und dieser Vorgang hat sich im Mittelalter gerade um die Zeit der Pogrome abgespielt. Auf der einen Seite verschuldete, hart arbeitende Menschen, die oft Kredit aufgenommen hatten, um ihre Lage zu verbessern und dabei unter der Wirkung der Krise in erdrückende Schuldenabhängigkeit gerieten, die oft zum Ruin führte – auf der anderen Seite die Gläubiger, die ohne große Mühen hohe Zinseinnahmen hatten. So kam es, dass man damals im Juden den Zinserpresser sah, und das hat sich bis auf den heutigen Tag in der Vorstellung der Menschen erhalten.

   Dass Zins und Judenhass in Verbindung stehen, wird gegenwärtig, wenn wir die jüngste Vergangenheit in Deutschland prüfen. Als sich der Zinsfuß 1924 zwischen 10 – 15 % bewegte und dadurch insbesondere die vielen kleineren und mittleren Betriebe zu Kreditaufnahmen griffen, um weiter existieren zu können und dabei in erhöhte Schwierigkeiten gerieten, hatte die Nazibewegung mit ihrer gefälschten Parole „Brechung der Zinsknechtschaft“ den großen Werbeerfolg in mittelständischen Kreisen. Ganz selbstverständlich wurden „Geld, Zins, Banken und Juden“ in einem Atemzug genannt, als etwas Zusammengehöriges propagiert. Es ist allgemein bekannt, dass die Nazibewegung gerade im Mittelstand den ersten und größten Werbeerfolg hatte. Vorgenanntes war eine der Ursachen.

   Sehr groß war und ist der Judenhass unter den Landwirten. Eine Untersuchung ergibt auch hier eine unmittelbare Verbindung mit dem Zinsproblem, allerdings als Wirkung des privaten Bodenbesitzes. Während ich mich heute auf das Zinsproblem beschränke, müsste auch diese Seite des Problems in der weiteren Prüfung behandelt werden. Großgrundbesitzer und private Bauern als private Bodenbesitzer verfügen sehr oft nicht über die nötigen Barmittel, um im Falle einer Erbteilung die Erbberechtigten abzufinden. Wo der Erbanteil von den Miterben nicht gestundet werden kann oder wird, muss dann Geld leihweise aufgenommen werden. Da die Juden in früheren Jahrhunderten keine Bodenbesitzer sein konnten, setzte sich ihr Besitz vorwiegend aus Bargeld zusammen. So ging man in vielen Fällen zum Juden, wenn man Geld aufnehmen musste. Der neue Hofbesitzer hat nunmehr alljährlich den Zins aufzubringen (natürlich auch wenn die Miterben den Betrag stunden). In der Konjunktur wirkt der in alle Preise einkalkulierte Zins nicht erdrückend. Die Situation ändert sich, sobald eine Krise hereinbricht. Während der Krise muss der Landwirt seine Produkte billiger verkaufen, denn jede Krise ist mit allgemeiner Preissenkung verbunden. Die Höhe des Umsatzes geht zurück, während die Höhe der Schuld und die Zinsenlast die gleiche bleibt.[2]  Diese einfache Tatsache ist die Ursache der viel bekannten Not der Landwirtschaft. In der Krise wird die Schuldsumme zu einer erdrückenden Zinslast. Wo nun Juden die Gläubiger sind, sieht der Landwirt in ihm den Zinserpresser, da ihm aus den voraufgegangenen Jahrhunderten der Ruf als Geldausleiher und Zinserpresser noch anhaftet; ja, er sieht in ihm den Schuldigen an seiner Notlage.

   Dass unsere heutige Wirtschaft von Konjunktur zur Krise pendelt, dass die heutige auf Rentabilität eingestellte Wirtschaft die Ursache ist, weiß der Landwirt nicht. Schon aus Tradition, schon konfessionell feindlich gegen die Juden eingestellt, ist es dann bis zum verbissenen Judenhass nur noch ein Schritt. Wer die Zusammenhänge zwischen Wirtschaftsvorgängen und Judenhass kennt, wundert sich daher nicht mehr, dass der Judenhass bis hinauf in die Kreise der Großgrundbesitzer seine besten und verbissensten Vertreter hat. Da die Juden insbesondere in früheren Jahrhunderten fast nur auf den Handel angewiesen waren, der nicht im gleich guten Ruf wie das Handwerk stand, von welchem man sie vielfach ausschloss, so ist es ein Leichtes, eine judenhetzende Propaganda auch von dieser Seite aus zu entfalten. Es ist daher auch wichtig zu untersuchen, warum der Handel einen vielfach unreellen Ruf hat. Meine Untersuchungen haben ergeben, dass diese Tatsache mit den vielfach schwankenden Preisen, die den Handel unübersichtlich machten (die Preisschwankungen waren durch Eingriffe in die Währung hervorgerufen worden), und der Unsicherheit der damals und noch heute geltenden unsicheren Wirtschaftszustände zusammenhing.[3]  Es soll hier auf diese schicksalsschweren Vorgänge nur hingewiesen werden. Eine ausführliche Bearbeitung dieser Seite des Einflusses behalte ich mir vor.

   Im bisherigen Abwehrkampf ist des Weiteren dem Krisenproblem kaum eine beachtliche Aufmerksamkeit gewidmet worden. Dabei wird niemand leugnen können, dass der Antisemitismus in Konjunkturjahren kaum hervortritt, dagegen in Krisenperioden immer wieder öffentlich ausbricht. Unsere gegenwärtige Wirtschaftsordnung ist nicht krisenfrei; nach einer Periode guter Konjunktur bricht stets wieder eine Krise aus, sobald die Wirtschaft unrentabel wird, d.h. wenn der Zinsfuß so tief gesunken ist, dass man volkswirtschaftlich von der Unrentabilität der Wirtschaft spricht. In Krisenzeiten, wenn die Geschäftslage schlecht ist, wenn die Menschen arbeitslos werden, entbrennt stets der Kampf gegen Eingewanderte, gegen Ausländer. An diesem Kampf des täglichen Brotes, der Ausschaltung der Konkurrenz haben Unternehmer und Arbeitnehmer gleiches Interesse. Doch Eingewanderte, die eingebürgert wurden, gelten schon in der zweiten Generation nicht mehr als Fremdlinge, weil niemand weiß oder kaum weiß, wer ein Eingewanderter war. Das ist anders bei den Juden. Infolge des Religionsunterrichts weiß ein jeder, dass die Juden Eingewanderte, also Ausländer sind. Es wird sich daher der Fremdenhass gegen die Juden so lange erhalten, als es entweder jüdische und christliche Konfessionen mit entsprechendem Religionsunterricht oder Krisen gibt.

   Ob es uns gefällt oder nicht, die Lösung der Judenfrage ist nicht von der Lösung der sozialen Frage zu trennen und die soziale Frage andererseits ist nicht zu lösen, wenn wir nicht die Zinswirtschaft überwinden. Wir haben uns daher mit dem Zinsproblem auseinanderzusetzen, wenn wir den Judenhass mit Dauererfolg bekämpfen wollen. Im Hinblick auf die furchtbaren Wirkungen des Judenhasses zu allen Zeiten halte ich es für meine Pflicht, Sie auf Silvio Gesell und sein grundlegendes Werk „Die Natürliche Wirtschaftsordnung durch Freiland und Freigeld“ hinzuweisen. Es handelt sich hier um eine neue bahnbrechende Erkenntnis über Ursache und Überwindung der unsozialen, so viel Hass und Not säenden Wirtschaftszustände. Es ist ein neuer aufgezeigter Weg zur Aufrichtung einer krisenlosen, gerechten Wirtschaft. Der neue Weg sieht die Aufrechterhaltung der Privatwirtschaft, die Vermeidung der Verstaatlichung der Betriebe oder planwirtschaftlicher Bestrebungen vor; er wird hingegen durch die Bodenbesitzreform und Geldreform eine wahre Wirtschaftsdemokratie und einen von jeden Machteinflüssen und Vorrechten bereinigten Liberalismus aufrichten. Diese Wirtschaftsordnung soll auf der Freiheit des Individuums aufgerichtet sein unter Ausschaltung der heutigen Möglichkeiten der Ausbeutung. In einer geordneten, gesunden, gerechten, krisenfreien Wirtschaft ist wohl Platz für einen natürlichen, gesunden Wettbewerb, aber es ist dort kein Platz für gegenseitigen Hass. Der Judenhass kann sich nur in unserer heutigen kapitalistischen Wirtschaftsordnung entfalten – er stirbt graduell mit der Umgestaltung der Wirtschaftszustände ab.

   Es kann natürlich nicht die Aufgabe dieses Entwurfs sein, die Leser mit dem Gesamtwerk Silvio Gesells vertraut zu machen. Ich will und kann hier nichts anderes tun als die Aufmerksamkeit daraufhin zu lenken. Die Ausrottung des Judenhasses ist m.E. nun keine Frage des Könnens mehr – es ist eine Frage des aufrichtigen, mutigen Wollens.

[1]    Anm. des Herausgebers: Paul Reiwald (1895-1951) war bis 1933 Jurist und Kriminalpsychologe in Berlin. Weil seine Bücher – u.a. „Die Gesellschaft und ihre Verbrecher“ – während der NS-Zeit nicht verbreitet werden durften, emigrierte Reiwald zunächst nach Brüssel und dann nach Genf, wo er als Dozent für Massenpsychologie tätig war.

[2]     Siehe hierzu die Vorschläge Silvio Gesells, das Geld so zu verwalten, dass weder Inflation noch Deflation eintritt, sondern die gleichbleibende Durchschnittskaufkraft des Geldes – Festwährung genannt – erzielt wird.

[3]     Der Unsicherheit und Schwierigkeiten der Verkehrs- und Transportmöglichkeiten früherer Jahrhunderte.