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Roland Geitmann:
Natürliche Wirtschaftsordnung und Judentum
Vortrag im Rahmen der 1. CGW-/INWO-Tagung in Birkenwerder am 29.4.1995. - Zuerst veröffentlicht in der „Zeitschrift für Sozialökonomie“ 106. Folge (1995), S. 33–41.

Übersicht
1  Geldwesen
1.1  Zinsverbot
1.2  Erlassjahr
1.3  Geldwesen und Antisemitismus
1.4  Gegenwart
2  Bodenordnung und weitere Elemente
2.1  Bodenordnung
2.2  Gemeinschaftssiedlungen
Anmerkungen

Wer unser Geldwesen kritisiert, insbesondere Zins und Zinseszins und deren Folgen, läuft Gefahr, als Links- oder eher noch als Rechtsextremist und als Antisemit verdächtigt zu werden. Dieser Methode bedient sich unterschwellig auch Bundesbankdirektor Otmar Issing in seinem Artikel "Der Zins und sein moralischer Schatten in der FAZ vom 20.11.1993. Zunächst zitiert er aus der Frankfurter Chronik zur Judenverfolgung im Mittelalter: "Propter usuras vexabantur" (wegen des Wuchers wurden sie gequält). Nachdem er die Zinskritik des Aristoteles als überholt und das Mittelalter mit seinem Zinsverbot als ‚finster’ abgetan hat, erinnert Issing an die gescheiterten marxistischen Versuche, Geld und Zins abzuschaffen, sowie an die Forderung im NSDAP-Programm nach einer „Brechung der Zinsknechtschaft“. In diese Gesellschaft rückt Issing nun diejenigen, die sich aus Sehnsucht nach der „zinslosen Wirtschaft“ immer wieder am Rande von Kirchentagen versammeln.

In der Tat ist das Zinsproblem seit vielen Jahrhunderten mit der Leidensgeschichte der Juden verknüpft. Doch wer das Problem verleugnet und tabuisiert, trägt dazu bei, diese Leidensgeschichte fortzusetzen statt das Problem zu lösen. Für Juden ist das Zinsnehmen seit Jahrtausenden ein Problem und sie sind, wie auch die Moslems, einer konstruktiven Lösung näher als wir Christen. Gerade von denen, die wir zu Sündenböcken machten, können wir wichtige Erkenntnisse und Impulse für eine gerechte Wirtschaftsordnung empfangen.

Ähnlich eng verknüpft ist die jüdische Leidensgeschichte mit der Bodenfrage. Der Kampf um ihr Land und gerechte Zuteilung des Bodens, ihre Zerstreuung und Rückkehr nach fast 2000 Jahren haben sie dafür vorbereitet, eine sinnvolle Bodenordnung zur Grundlage des neuen Staates zu machen - eine Ermutigung für alle Bodenreformer.

Anhand der Geld- und Bodenfrage soll im Folgenden die Nähe von Natürlicher Wirtschaftsordnung und Judentum dargestellt werden. Die Hauptquelle hierfür auf jüdischer Seite ist die Thora, also die fünf Bücher Moses, wie sie auch in unserem Alten Testament enthalten sind. Diese heiligste Schrift der Juden fand ihre Auslegung und Fortentwicklung durch den Talmud aus dem 1. bis 5. Jahrhundert unserer Zeitrechnung, bestehend aus der Mischna (in sechs Ordnungen aus der Thora abgeleitete Religionsgesetze) und der Gemara (Diskussionen über die Mischna in 60 Uaktaten). Später kamen systematische Gesetzessammlungen und Kommentare hinzu, z. B. von Maimonides, Turim und Schulchan Aruch sowie Sammlungen von Einzelentscheidungen (Responsa).

Diese durch viele Jahrhunderte und auch weiterhin geleistete Denkarbeit über Grundfragen der Sozialordnung hat dem Judentum seine einzigartige Kontinuität durch Wandlungsfähigkeit verliehen, so dass Mordechai Kaplan das Judentum definiert als „eine sich entfaltende religiöse Zivilisation“ (1). Kennzeichnend ist auch, dass das Judentum im Unterschied zur katholischen Kirche auf eine zentrale und verbindlich entscheidende Institution verzichtet und verschiedene rabbinische Lehrmeinungen nebeneinander bestehen lässt. Neben Orthodoxen gibt es Konservative, Reformierte, Rekonstruktivisten und Kultujuden (2), so dass viele Einzelfragen umstritten sind.

1  Geldwesen

1.1  Zinsverbot

Nach der Natürlichen Wirtschaftsordnung im Sinne von Silvio Gesell soll der Umlauf des Geldes dadurch gesichert werden, dass der „Jokervorteil“ des Geldes durch eine Liquiditätsabgabe neutralisiert wird. Der Zins soll also weder abgeschafft noch begrenzt werden; es wird vielmehr nur sein Sinken ermöglicht, damit er nur noch das Risiko und die Vermittlungskosten abdeckt, die künstliche Knappheit behoben, Inflation als missliche Umlaufssicherung entbehrlich und stabile Währung ermöglicht wird.

Das jüdische Zinsverbot (3) trifft den Zins umfassender und ist nicht geldspezifisch, sondern gilt auch für das Naturaldarlehen, zumal es aus einer Zeit israelitischer Naturalwirtschaft stammt, während andere Länder (etwa Babylonien, Ägypten und Phönizien) schon eine entwickelte Geld- und Zinswirtschaft hatten. In erster Linie ist es eine Verhaltensnorm gegenüber dem Armen, dem in seiner Notlage zinslos zu leihen sei, zumal Leihe schonender als Almosen ist. Die Mitsorge für arme Mitmenschen steht im Zentrum jüdischer Sozialethik und kennt vielerlei Regeln wie das Verbot, Feldecken abzuernten (Lev. 19,9f, 23,22) und das Nachleseverbot zugunsten der Armen (Lev. 19,9; 23,22; Dt. 24,20 f). Aus der Notlage anderer darf man kein Geschäft machen; ihnen zu helfen gebietet die Nächstenliebe (s. z.B. Lev. 19,18).

Mose ist der einzige antike Gesetzgeber, der ausdrücklich Darlehenszinsen verbietet. Die älteste Quelle (wahrscheinlich 13. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung) findet sich nach den Zehn Geboten (Kap. 20) und unmittelbar nach dem Verbot, Fremdlinge, Witwen und Waisen zu bedrücken in 2. Mose 22,24 (Exodus): „Wenn du Silber leihst einem aus meinem Volke, dem Armen neben dir, sei gegen ihn nicht wie ein Schuldherr; legt ihm nicht Zins auf“.

Anschließend folgt das Gebot, bei Pfandnahme eines Mantels diesen vor Sonnenuntergang zurückzugeben; denn „worauf sollte er sonst schlafen?“

Die jüngste Quelle der Thora dürfte das 3. Buch sein, genannt Heiligkeitsgesetz oder Priestercodex: 3. Mose 25,35-37 (Leviticus): „Und wenn dein Bruder verarmt und seine Hand neben dir wackelt, so sollst du ihn festhalten wie einen Fremdling und Beisassen, auf dass er neben dir lebe. Nimm nicht von ihm Zins und Mehrung, und fürchte dich vor deinem Gott, auf dass dein Bruder neben dir lebe. Dein Geld gib ihm nicht auf Zins und um Mehrung gib ihm nicht deine Nahrungsmittel.“

Das alles noch einmal zusammenfassende und in seinem Alter umstrittene 5. Buch Mose fasst das Zinsverbot in folgende Worte: 5. Mose 23,20-21 (Deuteronomium): „Du sollst nicht Zins auferlegen deinem Bruder, Zins für Geld, Zins für Nahrungsmittel, Zins für irgendeine Sache, die man auf Zins leiht. Dem Fremden magst du Zins auferlegen, aber deinem Bruder sollst du nicht Zins auferlegen, damit dich segne der Herr dein Gott, bei jeglicher Unternehmung deiner Hand in dem Lande, dahin du kommst, um es in Besitz zu nehmen.“

Nach der rabbinischen Lehre umfasst das Zinsverbot alles, was über das Geliehene hinausgeht, jegliches Mehr. Diese allgemeine Bedeutung von Mehrung hatte zunächst auch das aus dem Altgermanischen stammende Wort Wucher, das in diesem Sinne noch von Luther gebraucht und erst später im eingeschränkten Sinne von „übermäßigem Zins“ benutzt wird. Die Thora verwendet das Wort nesek, das abgeleitet ist von nasak = beißen, verletzen, schaden.

Die rabbinische Lehre stellt weiterhin klar, dass Armut des Darlehensnehmers kein Tatbestandsmerkmal des Zinsverbots ist, sondern dieses auch gegenüber Reichen gilt. Dies ergibt sich aus der zitierten Stelle im 5. Buch Mose, wo das Zinsverbot im Zusammenhang mit dem Hurenlohn genannt wird. Anders als bei Reichen wird gegenüber Armen und Bedürftigen ein Leihgebot bejaht, damit sie sich eine Existenzgrundlage schaffen können. Dieses Gebot, einander zu leihen, ist bis heute wirksam; anders wären die großen jüdischen Wanderungsbewegungen, insbesondere nach Amerika und wieder zurück nach Israel, gar nicht zu bewältigen gewesen.

Im Unterschied zu christlichen Moraltheologen des 19. Jahrhunderts macht die jüdische Soziallehre auch keinen Unterschied zwischen Konsumenten- und Produktivdarlehen, ermöglicht in Gestalt der so genannten isqa jedoch Geldeinlagen gegen Gewinn- und Verlustbeteiligung, eine Form, die später auch der Islam aufgreift und in verschiedenen Formen weiter entwickelt. Nur bei der Anlage von Mündelvermögen erlaubt die Gemara den Ausschluss der Verlustbeteiligung. Rechtsdogmatisch wird die isqa seit dem 3. Jahrhundert zur Hälfte als ein zinsloses Darlehen mit Verlustrisiko des Schuldners und zur anderen Hälfte als Hinterlegung mit Verlustrisiko und entsprechend hälftiger Gewinnbeteiligung des Gläubigers interpretiert.

Die Juden haben durch die Thora 613 Ge- und Verbote, von denen ca. 140 jeden betreffen. Die hohe Bedeutung des Zinsverbots wird darin sichtbar, dass König David es in seiner Zusammenfassung auf 11 Ge- und Verbote ausdrücklich aufführt (Psalm 15). Bei Naturaldarlehen wurden dem Darlehensgeber hierdurch sogar Nachteile zugemutet: Für trockenes Korn, in knapper Zeit gegeben, musste er die Rückgabe in feuchtem Zustand nach der Ernte hinnehmen. Um so verständlicher ist es, dass gegen das Zinsverbot sicher vielfältig verstoßen wurde. Darauf weisen etliche Stellen in den Heiligen Schriften hin, nicht dagegen der sich besonders um bedrängte Arme kümmernde Prophet Amos, was wiederum als Indiz für die Einhaltung des Zinsverbots zu jener Zeit verstanden werden könnte. Die Tatsache, dass Jesus „mit Pfunden zu wuchern“ als Gleichnis verwendet (aber eben auch nur als Gleichnis!), dürfte ein Hinweis auf die damalige Missachtung des Zinsverbots sein.

Die jüdischen Rechtslehrer antworteten auf solche Tendenzen der Praxis indessen mit Verschärfungen: bei Ratenkauf wurde die Berechnung von Zinsen nicht gestattet, während Skonto bei Vorauszahlung als zulässig erachtet wurde. Bei Sachmiete sei Mietzins nur in Höhe der Abnutzung zulässig. Im Übrigen wurden Wohltaten jeder Art als Verstoß gegen das Zinsverbot betrachtet und Umgehungsgeschäfte wie der Wiederkauf verboten. Bei einem Zinsgeschäft wurden selbst Bürgen, Zeugen und Schreiber als Gesetzesverletzer angesehen.

Da sich das jüdische Recht durch Einzelfälle entwickelte, wurde der Grundgedanke des Zinsverbots erst später formuliert, und zwar durch den babylonischen Amoräer R. Nahman bar Jahob (gest. 320 n. u. Z.), der erkannte: „Die Regel beim Zins ist: jeder Lohn für ein Warten ist verboten.“ Dieser Gedanke wird später in der christlichen Scholastik in der Weise vertieft, dass wir die uns von Gott geschenkte Zeit nicht zu Geld machen dürfen.

Demgegenüber lässt es die Natürliche Wirtschaftsordnung zu, dass sich Gegenwartsvorliebe in einem positiven Zins niederschlägt. Wenn jedoch der „Jokervorteil“ des Geldes durch eine Liquiditätsabgabe neutralisiert würde, entfiele die künstliche Verknappung des Geldes. Dann wird sich erweisen, dass sich unsere Gegenwarts- und unsere Zukunftspräferenz am Markt weitgehend ausgleichen. Denn zur Alterssicherung und Krankheits-, Schadens- und sonstigen Vorsorge ist das Bedürfnis, Konsum in die Zukunft zu verschieben, nicht geringer als die Verlockung, künftige Konsummöglichkeiten vorwegzunehmen. Sich in der Zeitdimension miteinander auszugleichen, ohne aus dem eigenen Zeitvorsprung einseitig ein Geschäft zu machen, ist ein elementarer Gewinn wirtschaftlicher Zusammenarbeit für beide Seiten. Diese Erkenntnis klingt im Judentum schon früh an und ist bis heute lebendig. Weil sie die Liquiditätsverzichtsprämie im Zins nicht zu erkennen vermag, redet uns die Wirtschaftswissenschaft dagegen ein, der Mensch sei auf Gegenwartspräferenz fixiert, so dass der Zins in dieser Höhe notwendig sei, um die Spanne zwischen Gegenwart und Zukunft zu überbrücken.

1.2  Erlassjahr

Schon das Buch Exodus (3. Mose 23, 10 f) regelt das Sabbatjahr, in dem Felder und Weinberge zugunsten der Armen brachliegen sollen. Nach dem Deuteronomium (5. Mose 15) soll jedes siebte Jahr als Erlassjahr gelten, in dem alle Schulden erlassen sind.

5. Mose 15,1-3 (Deuteronomium) (4): „Nach Ablauf von sieben Jahren sollst du eine Loslassung durchführen. Und das ist der Inhalt der Loslassung: Jeder Darlehensgeber soll seine Ansprüche aus dem Darlehen loslassen, das er seinem Bruder geliehen hat. Nicht soll er (sie) bei seinem Volksangehörigen und seinem Bruder eintreiben. Denn eine Loslassung fiir Jahwe hat man ausgerufen. Beim Fremden darfst du eintreiben. Doch was dir bei deinem Bruder gehört, sollst du aus deinem Anspruch loslassen.“

Aus besonderen Anlässen, z. B. bei Regierungsantritt eines neuen Königs, gab es auch in anderen Ländern des Vorderen Orients gelegentlich allgemeine Schuldenerlasse. Ein voraussehbarer Schuldenerlass musste hingegen zu dem Problem führen, dass gegen Ende der sieben Jahre die Bereitschaft, etwas auszuleihen, auf Null sank. Dieses Problem hatten die Autoren des Deuteronomiums durchaus im Auge (5. Mose 15,9): „Hüte dich, dass nicht ein nichtsnutziger Gedanke in deinem Herzen (ist): ‚Das siebte Jahr, das Loslassungs-Jahr ist nahe’, und dass du böse auf deinen armen Bruder blickst und ihm nichts gibst, so dass er gegen dich zu Jahwe ruft und eine Sünde auf dir liegt!“

Wie weit das Erlassjahr praktiziert wurde, ist unsicher. RainerAlbertz (5) sieht im Buch Leviticus eine Rücknahme dieser Regelung, weil dort das Sabbatjahr nur noch im Sinne der Brache festgelegt wird. Für eine Erlasspraxis noch um die Zeitwende spricht dagegen die Reform unter dem Rechtslehrer Hillel; danach konnten Gläubiger vor Beginn des Sabbatjahres ihre Forderungen in einer Urkunde bei Gericht geltend machen und auf diese Weise auch noch später einziehen. (6) Die Entsprechung zwischen himmlischer Schuldvergebung und irdischem Schuldenerlass, wie wir Christen es im „Vaterunser“ beten, oft ohne uns dessen bewusst zu sein, hat also tiefe Wurzeln in der jüdischen Ethik. Auch Schulden können nicht ewig währen, sondern müssen altern und schwinden wie alles auf der Erde. Dieser Effekt wird uns durch Inflation aufgenötigt, was wir durch einen entsprechend höheren Zins wieder auszugleichen versuchen. Dies entspricht jedoch einer vorzeitigen Rückzahlung, die den Schuldner in noch größere Nöte bringen und in den Ruin stürzen kann.

1.3  Geldwesen und Antisemitismus

Wie kam es nun, dass gerade die Juden im Zusammenhang mit Geld und Zins in die Rolle des Sündenbocks gedrängt werden konnten? Eine schlüssige Antwort scheint auf den ersten Blick darin zu liegen, dass sich das Zinsverbot nur auf Darlehen an Juden beschränkt und das Deuteronomium es ausdrücklich erlaubt, von Fremden Zinsen zu nehmen. Dieses sogenannte „Personalitätsprinzip“ ist jedoch nicht spezifisch jüdisch, sondern kennzeichnet alle antiken und mittelalterlichen Rechtsordnungen. (7) Verständlicherweise werden Hilfs- und Liebespflichten nur gegenüber den eigenen Volkszugehörigen auferlegt. Andernfalls wären Fremde sogar begünstigt, wenn sie von Juden Zinsen nehmen dürften, aber an Juden keine zu zahlen hätten.

Dass bedeutende Autoren des Mittelalters die oben zitierte Stelle aus dem Deuteronomium sogar als Aufforderung interpretierten, von Fremden Zinsen zu nehmen, lässt sich auf dem Hintergrund ihrer Unterdrückung durch die Fremden durchaus verstehen. Nach einer vermittelnden Meinung war das Zinsnehmen von Nichtjuden erlaubt, soweit dies für den Lebensunterhalt notwendig war. (8) Das Zinsnehmen generell als naturwidrige Erwerbsart anzusehen, wie es Artistoteles getan hatte, entsprach nicht jüdischer Sichtweise. (9)

Die Folge des Personalitätsprinzips war auch in anderen Ländern die, dass etwaige Beschränkungen beim Zinsnehmen durch Inanspruchnahme Fremder umgangen wurden. So wie römische Händler und Bankiers Teile ihres Vermögens auf Nichtrömer übertrugen, um bei der Darlehensvergabe nicht an die römisch-rechtlichen Höhenbeschränkungen des Zinses gebunden zu sein, suchten sich Juden nichtjüdische Strohmänner, um Zinsen von ihren Landsleuten erheben zu können. (10)

Nachdem die Christen das Zinsverbot übernahmen und es unter Karl dem Großen sogar zum Gesetz erhoben, war der Konflikt vorprogrammiert. Denn mit der zunehmenden Bedeutung des Geldes als Tauschmittel im Mittelalter musste das Zinsverbot wirtschaftsbehindernd wirken, weil es notwendige Leihvorgänge hemmte, sofern keine praktische Lösung wie mit den Brakteaten (regelmäßige Geldverrufung und Schlagschatz) gefunden wurde. Die Wirtschaft brauchte also einen Sündenbock, der die den Christen verbotenen verzinslichen Geldleihgeschäfte übernahm und sich damit entsprechend unbeliebt machte. (11)

Da die Juden vom Grunderwerb, Ackerbau, Handwerk und Gewerbe weitgehend ausgeschlossen wurden und andererseits im Metallhandel engagiert waren und dadurch mit dem Münzwesen zu tun hatten, lag es nahe, ihnen das Pfandleihgeschäft zu überlassen, oft die einzige Tätigkeit, von der sie ihr Leben fristen konnten. Ihre Intelligenz und Tüchtigkeit, Zuverlässigkeit und Sparsamkeit sowie ihre internationalen Kontakte machten sie zu unentbehrlichen Partnern gerade auch für die Herrschenden. Bischöfe und Fürsten hielten sich ihren ‚Hofjuden’ als Finanzier und verpfändeten ihnen ihre Steuerforderungen gegen ihre Untertanen. So konnten die Fürsten den Hass des Volkes gegenüber Steuereintreibern auf die Juden ableiten.

Juden wurden von den Herrschenden benutzt und regelrecht missbraucht. Sie drängten den Juden die Rolle des Anhäufens von Vermögen auf, um es ihnen dann zu eigenem Vorteil wieder zu entreißen: durch Vertreibung und angezettelte Pogrome oder durch willkürliche Schuldenstreichung. Zeitweise reiche Juden waren wie Melkkühe Gegenstand von Schenkungen und wurden wie Spielbälle oder Schachfiguren benutzt.

Zweifellos hat das verzinsliche Geldleihgeschäft der Juden in der Geschichte des Antisemitismus eine wichtige und verstärkende Rolle gespielt, vor allem im Mittelalter. Doch ist dieser Ursachenzusammenhang weder durchgängig noch zwingend. Dies ergibt sich aus einem Vergleich mit dem Islam, der ein toleranteres Verhältnis zum Judentum zeigt, obwohl die Juden auch dort eine ähnlich wichtige Rolle im Finanzwesen spielten, weil auch den Moslems das Zinsnehmen verboten ist. Dass verzinsliche Geldleihe nicht zu Pogromen führen muss, zeigt sich auch an christlichen Geldverleihern wie den Fuggern und Welsern. Und schließlich waren es weniger wirtschaftliche Veränderungen als vielmehr die Aufklärung, die im 19. Jahrhundert eine Veränderung zugunsten der Juden bewirkte.

Der Antisemitismus ist älter und verbreiteter als die Geldwirtschaft und hat vorchristliche Wurzeln im damaligen jüdischen Selbstverständnis als auserwähltes Volk und im Kampf um das ihnen zugewiesene Land gegen die dort ansässigen und umliegenden Stämme und Völker. Dass der Antisemitismus sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des Christentums zieht (12), ist leider schon in den Evangelien angelegt, welche die dem römischen Statthalter-Schurken Pilatus anzulastende Kreuzigung Jesu den Juden in die Schuhe schieben, so dass sie fortan als „Gottesmörder“ gebrandmarkt werden und auch von den Kirchenvätern mit Hass bedacht werden. Die tragische Verbindung von Thron und Altar unter dem Verwandtenmörder Kaiser Konstantin hatte Judenunterdrückung zur Folge, als Geld noch eine geringe Rolle spielte und das Zinsnehmen zunächst nur dem Klerus verboten war.

Im Mittelalter sind es neben dem Wuchervorwurf auch ganz absurde Beschuldigungen wie die, dass Juden Ritualmorde und Hostienfrevel begingen, womit Pogrome angefacht wurden. Beim späten Luther verbindet sich in hässlichsten Formulierungen religiös formulierter Judenhass mit dem Vorwurf des Wuchers. In seiner Hetzschrift „Von den Juden und ihren Lügen“ (1543) heißt es: „Der Jude lässt nicht von seinem Sinn, Christen umzubringen, wo er nur kann ... der Odem stinkt ihnen nach der Heiden Gold und Silber ... kein Volk unter der Sonne geiziger ... verfluchter Wucher ... giftigen Hass wider die Gojem von Jugend auf eingesoffen ... Darum wisse du, lieber Christ, und zweifel nichts daran, dass du, nähest nach dem Teufel, keinen bittern, giftigern, heftigern Feind habest, denn einen rechten Juden ... Die Juden verkehren Gottes Wort, geizen, wuchern, stehlen, morden, wo sie können, und lehren solches ihre Kindern für und für nachzutun.“ (13)

Auch Luther war ein irrender Mensch „zwischen Himmel und Hölle“. Die Aufklärung des 18. Jahrhunderts schuf zwar die Voraussetzungen, den religiösen Judenhass zu überwinden; sie legte aber gleichzeitig die Grundlage für eine rassistische Ausgrenzung, die dann im 20. Jahrhundert durch die nationalsozialistische Judenvernichtung eine schreckliche Steigerung erfuhr. Dass die Nationalsozialisten die Forderung nach „Brechung der Zinsknechtschaft“ als antisemitisches Instrument missbrauchten, hat also eine lange Vorgeschichte, was nicht gegen die Berechtigung dieser Forderung spricht, sondern dafür, dass hier bis heute ein Problem auf seine Lösung wartet. Dem Kapitalismus konnte nichts Günstigeres passieren, als dass die Zinskritik im Strudel des Nationalsozialismus mit verschwand und tabuisiert wurde. Wer auf diesem Tabu beharrt in vermeintlicher Rücksichtnahme auf die jüdische Leidensgeschichte, zementiert ein übles Klischee, bereitet den Boden für künftiges Leiden und tut insbesondere den Juden Unrecht, für die das Zinsverbot im Unterschied zu den Scheinchristen noch heute von Bedeutung ist.

1.4  Gegenwart

Auch heute gilt noch Geldverleih mit Gewinn zwischen Juden als unmoralisch. (14) Sogar ein Inflationsausgleich durch Bindung an den Lebenshaltungskostenindex wird von den meisten Rabbinern als unzulässige Form des Zinses angesehen. (15) Die Bindung an eine ausländische Währung stößt dagegen nicht auf Bedenken. Indes, auch die Rabbiner tragen der Realität Rechnung: Von Banken ausgezahlte Zinsen anzunehmen ist erlaubt. (16) Auf diese Weise wird die Zwischenschaltung einer Institution zur Selbsttäuschung.

Im Unterschied zur Forderung Jesu (Lk 6,35), auf der Rückgabe des Verliehenen nicht zu bestehen, werden Sicherheiten (Pfänder) und Rückzahlungsforderungen in der jüdischen Wirtschaftsethik streng beurteilt. Bei zinsloser Leihe liegt das Risiko allein beim Schuldner. Übernimmt der Gläubiger dagegen einen Teil des Risikos, ist auch eine entsprechende Gewinnbeteiligung geboten. Diese Form der Gewinn- und Verlustbeteiligung (isqa) hat im produktiven Bereich große Bedeutung gewonnen und ist durch entsprechende Vertragsformulare standardisiert. Soweit ein Gewinn fingiert und ein Verlust ausgeschlossen wird wie bei Staatsanleihen, ist die Beurteilung bei Rabbinern umstritten. (17)

Bedeutsam und anspornend ist jedoch Folgendes (18): Parallel zum Bankwesen gibt es in der jüdischen Gesellschaft ein dichtes Netzwerk von Institutionen, privaten Einzelinitiativen und Synagogen, die zinslose Leihe vermitteln und organisieren, sowohl für Konsumzwecke als auch für geschäftliche Investitionen. Die von jüdischer Sozialethik getragene breite Bereitschaft, hierbei mitzumachen, ist eines der Geheimnisse der erfolgreichen Staatsneugründung Israel. Nach wie vor betrachten sich die Angehörigen dieses Volkes als „Hausgemeinschaft“, deren Mitglieder sich gegenseitig beistehen.

2  Bodenordnung und weitere Elemente

2.1  Bodenordnung

In einer Natürlichen Wirtschaftsordnung würde die Bodenrente in der Weise abgeschöpft, dass Nutzungsrechte am Boden nach dem Meistgebotsprinzip, also zu marktgerechten Nutzungsentgelten vergeben werden, die der Kindererziehung zugute kommen. Hierzu gibt es im Judentum starke Entsprechungen, begründet in der Thora und in erstaunlicher Weise im 20. Jahrhundert realisiert. (19)

Sozialer Hintergrund für die Thora-Regelungen sind Fehlentwicklungen während des Königtums, wofür die Geschichte von Naboths Weinberg (l. Könige 21) ein plastisches Beispiel ist. Offensichtlich wurden kleinbäuerliche Familien zugunsten großer Staatsgüter für Staatsbeamte, Offiziere und Händler unterdrückt, indem sie für Kredite ihre bewegliche Habe, Grundstücke und sogar ihre Familie verpfändeten und schließlich Tagelöhner und Sklaven wurden (vgl. Jesaja 5,8; Micha 2,1- 2; Amos 2, 6; 5, 11). Um dem gegenzusteuern, erklärten priesterliche Reformer das 50. Jahr zum „Jobel-Jahr“ und erläuterten dessen Auswirkungen für den Grundstücksverkehr sehr prägnant: „Im Jobel-Jahr sollt ihr, ein jeder, zu seinem Landbesitz zurückkehren. Wenn du deinem Mitbürger etwas verkaufst (= pfändest) oder etwas aus der Hand deines Mitbürgers kaufst (= zum Pfand nimmst), so sollt ihr einander nicht bedrücken. Nach der Zahl der Jahre nach dem Jobel sollst du von deinem Mitbürger kaufen, nach der Zahl der Ertragsjahre soll er dir verkaufen. Je mehr Jahre es sind (bis zum nächsten Jobel-Jahr), so sollst du seinen Kaufpreis erhöhen, je weniger Jahre es sind, so sollst du seinen Kaufpreis verkleinern. Denn die Anzahl der Erträge verkauft er dir.“ (3. Mose 25,13-16 / Leviticus) Und in Vers 23 heißt es bekräftigend: „Das Land aber sollt ihr nicht unwiderruflich verkaufen - denn mir gehört das Land, denn Fremdlinge und Beisassen seid ihr mir.“

Die weiteren Verse dieses Kapitels regeln das Rückkaufsrecht des ursprünglichen Eigentümers und seiner Familie zum Wert der bis zum nächsten Jobel-Jahr noch ausstehenden Ernten. Im Jobel-Jahr soll es kostenlos in seinen Besitz zurückgehen. Das Ganze soll allerdings nur außerhalb der ummauerten Stadt gelten, während innerhalb der Stadt lediglich ein Jahr lang das Rückkaufsrecht (zum vollen Erwerbspreis) besteht, bis das Eigentum unwiderruflich an den Käufer übergeht. Nur die Leviten (Priester) haben zeitlich unbeschränkte Rückkaufsmöglichkeit und erhalten im Jobel-Jahr auch ihre Stadthäuser zurück.

Praktische Anwendung fanden diese weisen Regeln im alten Israel kaum. Die Vertreibung der Juden und ihre Beschränkungen in der Diaspora entfernten sie von Grund und Boden. Als sie schließlich im 19. Jahrhundert in Europa ihre Ghettos verlassen durften, bevorzugten die dem Ackerbau gänzlich entwöhnten Menschen verständlicherweise städtischen Immobilienbesitz. Dann aber erwachte die Idee, nach Palästina zurückzukehren, in ihr Land und zu ihrem Boden.

Mangels eigener Geldmittel erwies es sich als notwendig, sich zusammenzutun. Im Jahr 1884 schlug Moshe Leib Lilienblum in seiner Veröffentlichung „Über die Wiedergeburt des jüdischen Volkes im Lande seiner Väter“ vor, einen Volksfonds zum Erwerb von Flächen in Palästina zu gründen und gegen langfristige Zahlungen an Siedler weiterzuverkaufen. Zionistische Intellektuelle erkannten jedoch rasch die Gefahr der Bodenspekulation und vertieften sich in die Erkenntnisse der Bodenreformer Michael Flürscheim (1844-1912), Henry George (1839-1897) und Theodor Hertzka (1845-1924). Hermann Schapira (1840-1898) forderte folgerichtig die Bildung eines jüdischen Nationalfonds (Keren Kayemath Leisrael), der das erworbene Land nicht veräußert, sondern nur Nutzungsrechte (Erbpacht) vergibt, mit ausdrücklichem Hinweis auf die Regeln des Jobel-Jahres. Auf dem 5. Zionistenkongress 1901 unter Theodor Herzl wurde ein entsprechender Beschluss gefasst und insbesondere durch Johann Kremenezky und Dr. Max Bodenheimer umgesetzt. Erheblichen Anteil an der Verbreitung dieser Idee hatte auch Franz Oppenheimer.

Freilich wurden auch Bedenken gegen diese Bodenpolitik erhoben: Ohne Bodeneigentum werde der Mittelstand von einer Ansiedlung in Palästina abgeschreckt, Privatinitiative würde gelähmt und man gerate gar in kommunistisches Fahrwasser. Doch diese Einwände erwiesen sich als unbegründet; zu Recht wurde demgegenüber darauf hingewiesen, dass der Erwerb durch einen Bodenfonds Konkurrenz und dadurch zu stark ansteigende Bodenpreise vermeiden würde und dass Siedler in Gebäude und Betriebe investieren könnten statt in den Boden.

Unter der türkischen Herrschaft war das Land in Palästina weitgehend verödet, lag brach und hatte nur 300.000 bis 400.000 Einwohner. In erheblichem Umfang gehörte das Land wenigen Familien, die sich als Steuereintreiber die übrige Bevölkerung abhängig gemacht hatten und für sich arbeiten ließen. Durch die jüdischen Ansiedlungspläne witterten die Großgrundbesitzer Morgenluft, hofften auf steigende Bodenpreise und willkommene Verkaufserlöse und waren, wenn auch mehr oder weniger versteckt, verkaufsbereit. Als folgenreich erwies sich das der Londoner Zionistenkonferenz 1920 telegrafisch übermittelte Kaufangebot über größere Ländereien im Jesreel-Tal. Angesichts der begrenzten Mittel wurde durch Annahme dieses Angebots der Schwerpunkt des Grunderwerbs im ländlichen Raum gesetzt; für den städtischen Raum blieben kaum noch Mittel übrig, so dass zum Beispiel Tel Aviv bis heute unter spekulativ hochgetriebenen Bodenpreisen leidet.

Dieser mühsam Stück für Stück getätigte Erwerb von oft sumpfigem und unwegsamem Gelände wurde nach dem 2. Weltkrieg bei der Staatsgründung Israels ergänzt durch das früher türkische Staatsland, das nach dem 1. Weltkrieg britisches Mandatsland geworden war und nun dem neuen Staat übergeben wurde. Hinzu kamen die Grundstücke der 1948 geflohenen oder vertriebenen Palästinenser. Im Ergebnis gehörten 1967 von den 20.255 km2 Landfläche über 90 Prozent der öffentlichen Hand (Staat, Fonds und Gemeinden).

Der Nationalfonds wurde durch entsprechende Gesetze im Jahr 1960 zur offiziellen Bodenbehörde. Gleichzeitig wurde festgelegt, dass der Boden nicht veräußert, sondern dass die Nutzung in Erbpacht oder Erbbaurecht vergeben wird. Die Vertragskonditionen hierbei sind für die Ansiedler günstig; in den ersten sieben Jahren werden maximal 2 % der zu erwartenden Erträge als Entgelt verlangt, bei städtischen Grundstücken 3-4% des Wertes. Alle sieben Jahre wird eine Anpassung durch Steuerschätzbeamte vorgenommen, gegen deren Feststellung Einspruch erhoben werden kann. Bei Übertragung des Rechts auf einen anderen wird eine „Zustimmungsgebühr“ erhoben, die den erzielten Mehrwert wenigstens zum Teil abschöpft.

Die bisherigen Erfahrungen zeigen deutlich, wie sehr diese Bodenordnung die Planung und deren Realisierung erleichtert, sei es Erschließung, Ansiedlung, Wohnungsbau und gewerbliche Siedlung, sei es Aufforstung oder die Festlegung von Erholungs- und Naturschutzgebieten. Die Bodenpreisentwicklung konnte - im Unterschied zu den Städten mit vorwiegendem Privateigentum - erheblich gedämpft werden. Die Tatsache, dass in Israel ein so erheblicher Anteil des Bodens in öffentlicher Hand und nur im Nutzungsrecht vergeben wird, hat sich als wesentliche Grundlage für den Aufbau des israelischen Staates und der Demokratie erwiesen. Die großen Einwanderungswellen wären andernfalls nicht zu bewältigen gewesen.

Wenn auch mit Flüchtlingselend der Palästinenser erkauft, konnte die Chance einer Staatsneugründung für die Bodenordung wahrgenommen werden, weil alte Weisheitsschätze dieses Volkes, von Bodenreformern in die Sprache unserer Zeit übersetzt, zur Verfügung standen und von klarsichtigen Menschen aufgegriffen und in die Tat umgesetzt wurden. Ein ermutigendes Signal geht hiervon aus für andere Länder, insbesondere Lateinamerika, Afrika und Asien, aber auch für Europa. Vor allem den ehemals sozialistischen Ländern Osteuropas möchte man wünschen, dass sie die Chancen ihrer Bodensituation nicht verspielen. Dass die Saat hilfreicher Gedanken über Elemente gerechter Gesellschaftsordnung manchmal an anderer Stelle als erwartet aufgeht, zeigt die Verfassung von Äthiopien von 1994, die das öffentliche Eigentum am Boden festschreibt und die Vergabe von Nutzungsrechten vorsieht: Bauland nach Meistgebot und Agrarland gratis.

2.2  Gemeinschaftssiedlungen

Da sie mit dem öffentlichen Eigentum am Boden sachlich zusammenhängen, sollen sie hier wenigstens noch kurz erwähnt werden (20): Die Kwuza ist ein kleines Kollektivdorf mit kooperativen Grundsätzen. Der erste Kibbuz wurde 1908 am Südufer des Sees Genezareth gegründet und bezeichnet eine größere Gemeinschaftssiedlung, die in unterschiedlichen Graden auch die Funktionen von Familie und Kindererziehung übernimmt. Die Moshav Ovdim sind Eigenwirtschaften, die im Dorfrahmen kooperieren. Moshav Schittufi nennt man Mischformen zwischen Kibbuz und Moshav Ovdim mit gemeinsamer Produktion, aber privaten Haushalten. Alle diese Formen kennen folgende vier Grundprinzipien:

- Siedlung auf öffentlichem Boden,
- Eigenarbeit (bewusste Rückkehr zur körperlichen Arbeit),
- gegenseitige Hilfe und
- einheitliche Vermarktung und gemeinsamer Ankauf von Produktionsmitteln. –

In seiner modernen, aggressiven, menschen- und naturfeindlichen Form ist der Kapitalismus ein Produkt des Christentums und steht in krassem Gegensatz zu den in den Evangelien verkündeten Prinzipien christlicher Lebensweise. Zum Teil hineingedrängt und genötigt haben hierbei auch Juden mitgewirkt. Für viele von ihnen sind jedoch jene Weisheiten lebendig geblieben, die auch Wurzeln christlicher Sozialethik sind und Orientierung dafür geben könnten, den Kapitalismus zu überwinden.

Wer die Bedeutung des Umgangs mit Geld und Boden erkannt hat, wird mit Respekt die jüdische Praxis verfolgen, insbesondere ihre Bodenordnung und deren Auswirkungen und ihr Gespür dafür, dass Geld nicht nur zum Kaufen und gewinnbringenden Investieren, sondern auch zum zinslosen Leihen und Schenken da ist. Schaut man dann noch auf die Bemühungen der Islamischen Banken, Zinsen durch Formen der Gewinn- und Verlustbeteiligung zu ersetzen, liegen wir Christen in den Bestrebungen um eine Natürliche Wirtschaftsordnung deutlich zurück. Geld- und Bodenordnung sind bei uns ein Tabu und als Aufgabe nicht erkannt, geschweige denn gelöst.

Statt wie in der Vergangenheit Juden und andere Minderheiten zu Sündenböcken für die schlimmen Auswirkungen ungelöster Ordnungsfragen zu machen, sollten wir uns in einen friedlichen Wettbewerb einlassen, in dem Juden, Moslems, Christen und andere Kulturen nach dem rechten Weg gesellschaftlicher Ordnung suchen. Die Fortschritte der anderen gerade im Bereich der Geld- und Bodenordnung können und sollten uns Ansporn sein im Sinne der Lessingschen Ringparabel, die „Nathan der Weise“ erzählt und die mit folgender Aufforderung des Richters an die drei streitenden Brüder endet: „Es strebe von Euch jeder um die Weite, die Kraft des Steins in seinem Ring an Tag zu legen! Komme dieser Kraft mit Sanftmut, mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, mit innigster Ergebenheit in Gott, zu Hilf …!“

Anmerkungen

1  Zitiert nach Leo Trepp, Die Juden. Volk, Geschichte, Religion (1992), S. 166.
2  Näheres darüber bei L. Treep (Anm. 1), S. 93 ff.
3  Für das Folgende stütze ich mich wesentlich auf die Arbeit von Eberhard Klingenberg, Das israelitische Zinsverbot in Torah, Misnah und Talmud (1977).
4  In der Übersetzung von Rainer Albertz, Der Kampf gegen die Schuldenkrise - das Jobeljahrgesetz Levitikus 25, in: Der Mensch als Hüter seiner Welt. Alttestamentliche Bibelarbeiten zu den Themen des konziliaren Prozesses (1990), S. 41/44.
5  A.a.0. (Anm.4), S. 48.
6  Dazu E. Klingenberg, a.a.0. (Anm. 3), S. 87. - David Novak, Jewish social ethies (1992), S. 212 ff.
7  E. Klingenberg, a.a.0. (Anm. 3), S. 34 ff., 74 ff.
8  E. Klingenberg, a.a.0. (Anm. 3) S. 75 f.
9  So Meir Tamari, With all your possessions. Jewish Ethics and economic life (1987), S. 182 .f
10  E. Klingenberg, a.a.0. (Anm. 3), S. 76 f.
11  Zum Folgenden Johann Maier, Das Judentum. Von der Biblischen Zeit bis zur Moderne (3. Aufl. 1988), S. 589 ff.
12  Dazu Gerhard Czermak, Christen gegen Juden. Geschichte einer Verfolgung (1991).
13  Zitiert nach G. Czermak, a.a.0. (Anm. 12), S. 85.
14  Eliaho Avichail, Judentum - Eine Einführung in die Grundlagen des jüdischen Glaubens und Gesetzes (2. Aufl. 1994), S. 100.
15  M. Tamari, a.a.0. (Anm. 9), S. 193 ff.
16  E. Avichail, a.a.0. (Anm. 14).
17  M. Tamari, a.a.0. (Anm. 9), S. 188 ff.
18  Dazu M. Tamari, a.a.0. (Anm. 9), S. 171.
19  Für diesen Abschnitt stütze ich mich vor allem auf die Darstellung bei Efraim Orni, Bodenreform und sozialer Fortschritt in Israel, hrsg. vom Hauptbüro des Keren Kayemeth Leisrael Jerusalem (1973), aber auch auf den in Anm. 4 genannten Aufsatz von R. Albertz, dessen Übersetzung der Thora-Zitate ich folge.auch auf den in Anm. 4 genannten Aufsatz von R. Albertz, dessen Übersetzung der Thora-Zitate ich folge.
20  Dazu E. Orni, a.a.0. (Anm. 19), S. 48 ff., und J. Maier, a.a.0. (Anm. 11), S. 820 ff.